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Er schaut tief in ihre Augen. Sie hält verschämt die Hand vors Gesicht. Niklas übersät ihren Körper mit Küssen, und sie lässt es geschehen.

       Über ihr die Wolken, der Himmel und das Zwitschern der Vögel. Am Wiesenrand grast der Ochse. Da schlägt sie die Augen auf.

       Niklas!

       Er war da!

       Er war bei mir!

      Mit ihm hatte sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen können. Sie spürt seine Haut. Sie fühlt seine weichen Lippen. Sie vermisst ihn so sehr!

      »Wenn ich wiederkomme, werden wir aufhören mit dieser Heimlichtuerei«, hatte er versprochen und ihr zum Abschied ein kleines, schlichtes Holzkreuz geschenkt, das er aus einem heruntergefallenen trockenen Ast der alten Kastanie in Johanns Hof selbst geschnitzt hatte. Wie jeden Morgen kramt sie es aus der Nachttischschublade hervor. Sie hat es versteckt, wickelt es aus dem Handtuch und umklammert es fest mit ihren Händen. Hoffen. Hoffen, hoffen. Nicht bangen, sagt sie sich. Vielleicht klopft es bald an der Tür. Vielleicht steht Niklas bald wieder lächelnd vor ihr und nimmt sie bei der Hand. Vielleicht ist er gar nicht tot, wie alle sagen.

       Ihre müden Augen wandern die graue Zimmerdecke entlang, als würden sie dort oben kleben, die schönen Spuren ihres Schlafs. Aber ihr Traum, ist er nicht längst ausgeträumt? Der Krieg, er tobt nun schon seit sechs Jahren, und über den Frühling, der jeden Tag ein wenig näher rückt wie der Feind aus dem Westen, mag sich im Dorf niemand freuen. Die Menschen stehen abends vor dem Dorfbrunnen und machen sich gegenseitig Mut. Die Frauen stimmen alte Volkslieder an. »Hoch auf dem gelben Wagen«, juchzen sie und »Es sah ein Knab ein Röslein steh’n.« So schlimm kann es doch nicht werden, hoffen sie. Nur Christel, die Sakristeigehilfin, bleibt unerbittlich und kontert mit apokalyptischen Versen aus der Bibel, bis Johann ihr Einhalt gebietet und ihr in harschem Ton befiehlt, sie solle endlich still sein.

       Die knorrigen Äste der alten Kastanie ragen in den verregneten Märzhimmel. Der Himmel ist wolkenlos und stumpf. Margarete hat Kopfweh. Unten in der Küche haben alle bloß Sorge um ihren Bruder Micha, alle Gespräche drehen sich nur um ihn, der zu den wenigen gehört, von denen noch keine Todes- oder Vermisstennachricht das Dorf erreicht hat. Margarete spricht ein Gebet. Aber sie weiß: Dieser Gott erhört nicht jedes Gebet. Margarete ist froh, dass zumindest Niklas‘ Mutter Anne-Kathrin ihre Trauer etwas überwunden zu haben scheint. Das berichtet zumindest Mathilde, die sie regelmäßig besucht. Mathilde sagt, dass Anne-Kathrin wieder ab und zu lachen könne. Auch sie, Margarete, müsse Niklas vergessen. Das sagt sich so leicht. Vergessen. Vergessen kann nur ein Hund. Man sieht sie jetzt öfters sonntags mit Hanka spazieren gehen, die versucht, ihr Polnisch beizubringen. Immerhin kann sie nach Monaten schon bis drei zählen: jeden, dwa, trzy. Das polnische Zahlwort für vier, cztery, kann sich Margarete allerdings schon nicht mehr merken. Die polnischen Wörter sind viel zu schwer, als dass sie in einem Kopf, der immerhin einem Fenstersturz getrotzt hat, haften blieben. Seit jenem Tag im April 1944 fällt es Margarete schwer, sich zu konzentrieren. Da klopft es an der Tür. Die Mutter kommt in ihr Zimmer.

      »Kocham cie, mama«, sagt Margarete und lacht.

      »Was heißt das?«, will Anna wissen.

      »Das ist Polnisch und bedeutet: ‚Ich liebe dich, Mutter‘.«

       Anna fällt ihrer Tochter um den Hals.

      »Du bist mein ein und alles«, antwortet sie. »Mein ein und alles. Ich will, dass du glücklich wirst.«

       Margarete steht auf. Sie schlurft zum Waschtisch, füllt Wasser in die Zinkschüssel, wischt sich den Schlaf aus den Augen. Sie sieht in den Spiegel. Eine braune Haarsträhne fällt in ihr rundes Gesicht, sie lächelt wehmütig und erinnert sich: War er nicht schön, dieser winzige Augenblick, als sie sich unsterblich in Niklas verliebte? Auf dem Bett sitzt Anna. Fremd schaut sie der Tochter zu.

      »Warst du auch einmal glücklich, Mutter?«

       Margarete setzt sich zu ihr aufs Bett. Anna greift nach ihrer Hand. Mit einem tiefen Seufzer beginnt sie zu erzählen.

      »Das ist schon lange her, mein Kind. Aber ja, natürlich war ich einmal glücklich, als junges Mädchen. Da war ich etwa so alt wie du. Damals, zwischen den Kriegen, da waren die Zeiten auch hart. An der New Yorker Börse sanken die Aktien. Die Reichsmark war von einem Tag auf den anderen nur noch einen Strohhalm wert.«

       Anna starrt vor sich hin, als erblicke sie in einer Kugel ihre Vergangenheit. Sie erinnert sich genau an diesen hellen Julimorgen 1920: Zwei Jahre war es her, seit der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen war.

      »Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und noch immer ein naives Huhn.«

      »Was ist damals passiert?«, fragt Margarete.

      »Ich schob an diesem Morgen mein Fahrrad aus der Scheune und machte mich auf den Weg in die Stadt. Da bin ich deinem Vater zum ersten Mal begegnet«, erzählt Anna. »Mit welcher Kraft die Morgensonne damals strahlte! Und wie jung ich war! Nie werde ich diesen Tag vergessen, an dem ich zum Markt geradelt bin, um drei Hühner zu verkaufen. Ich hatte mein bunt geblümtes Sommerkleid angezogen, das ich selbst genäht hatte. Sobald ich die Hühner verkauft hatte, sollte ich beim Juden Kautabak für den Vater und Stopfgarn für die Mutter besorgen.«

       Mutter und Tochter sitzen auf der Kante des Betts. Anna fällt es schwer, sich mit ihrer Tochter über Liebe zu unterhalten und von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Sie schließt die Augen, dann geht es einfacher: Sie fühlte den kühlen Sommermorgen auf ihrer Haut, als sie das Dorf verließ. Angestrengt trat sie in die Pedale und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, die toten Hühner baumelten Kopf unter an der Radstange herab. Am Elzbach, der sich von der Hohen Eifel aus östlich in Richtung Mosel schlängelt und anfangs ein schmales Rinnsal ist, lungerten wie immer junge Männer, Fahrende, herum, die am Rand des Dorfes sesshaft geworden waren.

      »Niemand wollte mit denen etwas zu tun haben. Sie wurden ‚Kesselflicker‘ genannt, weil sie durch die Dörfer zogen, alte Kartoffelkessel und Töpfe reparierten und Weidenkörbe flechten konnten, die die Bauern bei der Kartoffel- oder der Apfelernte vor sich herschoben. Als sie mich sahen, pfiffen sie mir hinterher. Du glaubst nicht, wie schnell ich in die Pedale getreten habe.«

       Anna erreichte schnaufend die Anhöhe, bog in den kleinen Waldweg ein, strampelte mit Karacho bergab in die Stadt. Der kühle Fahrtwind wehte ihr ins Gesicht. Was für ein Morgen! War es nicht egal, was in diesem Augenblick an der New Yorker Börse geschah? Die Luft duftete nach frischem Grün und gelbblühendem Ginster, den sie hier das »Eifelgold« nennen. Wie die Wiese, über die sie querfeldein radelte, war Annas Leben: Jung und verschwenderisch! Sie hoffte, dass es jemand pflücken würde wie die Blumen, die auf den feuchten Wiesen blühten und aussahen wie ein Märchenteppich aus Tausendundeinernacht. In der Stadt angekommen, überquerte sie den Marktplatz, der sich langsam füllte: Dorfbauern zerrten mit hochrotem Kopf Ochsen herbei, Hirten trieben ihre widerspenstigen Schweine vor sich her, Frauen in dicken Röcken breiteten geräucherten Schinken, selbst gemachten Ziegenkäse, frische Eier und Gemüse an ihren Ständen vor sich aus, in ihren Käfigen gackerten Huhn und Gans. Ein Hund hetzte ein paar Tauben über den Platz und stieß die Milchkanne einer Marktfrau um, die ihn wild gestikulierend davonjagte, die Milch schwappte über ihre frisch gestärkte Schürze und floss in Rinnsalen über das Pflaster: Hier war er, der betäubende Geruch des Marktes, der keinen Unterschied machte zwischen Stadt und Land.

       Johann hatte wie immer lange geschlafen, seine Morgentoilette beendet, ausgiebig gefrühstückt, dann die Katzen gefüttert, sich angezogen und die Haare gekämmt: Der Scheitel saß wie eine Eins. Ein letztes Mal betrachtete er sich im Spiegel. Er rückte den Hemdkragen zurecht,

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