Die Stille im Dorf. Karl Blaser
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Читать онлайн книгу Die Stille im Dorf - Karl Blaser страница 17
Gibt es sie wirklich, diese eine Liebe, fragt sich Anna, während sie ihr verhärmtes Gesicht im Spiegel betrachtet. Stadt und Land passen nicht zueinander, ihre alten Eltern hatten sie gewarnt. Aber sie hatte nicht auf sie gehört. Heute weiß sie, dass sie einen Jungen aus dem Dorf hätte nehmen sollen wie die anderen Frauen.
Aber ob die glücklicher sind? Anna vermag es nicht zu beantworten. Nur eines hat die Erfahrung sie gelehrt: Männer bringen Unheil, so oder so, einer wie der andere, sie sind alle gleich. Und die Frauen halten dicht, sie schließen sich mit ihrem Unglück ein. Anstatt einen kräftigen Durchzug zu veranstalten und frischen Wind in die Stube zu lassen, machen sie schnell Fenster und Türen zu und vergraben sich in ihrem Selbstmitleid. Alles wunderbar, sagen sie ihren Freundinnen: die Ehe, die Kinder, die Arbeit, das Leben. Alles in bester Ordnung, auch wenn sie noch so unglücklich sind. Frauen igeln sich ein, sie schlucken das eigene Leid hinunter, anstatt sich ihm zu verweigern und es auszukotzen wie eine Mahlzeit, die sie nicht vertragen haben. Über alles reden sie gern und machen viele Worte, nur die eigene Wahrheit wollen sie nicht hören. So sind sie, die Frauen hier im Dorf und vielleicht auch anderswo, aber das kann Anna nur vermuten, denn ihre Fußspur reicht nicht weiter als bis zu der kleinen Stadt, in der sie Johann aufgegabelt hatte. Hier endet ihr Horizont: zwei Fahrradstunden vom Dorf entfernt. Nein, die Weibsbilder hier tragen keine Hüte, keiner Frau würde es einfallen, mit einer Windstoßfrisur, die Schläfenhaare nach vorn gekämmt, auf die Straße zu gehen. Und hier, nicht anderswo, spielt ihr verdammtes Leben!
Der Tag fällt in Annas armselige Schlafkammer. Sie könnte viel erzählen, aber nichts, was für andere Ohren bestimmt ist. Auch mit ihrer Tochter Margarete kann sie nicht über alles reden. Das ist vielleicht ein Fehler. Sie will nicht, dass es ihrer Tochter einmal genauso ergeht, wie es ihr ergangen ist. Sie will, dass Margarete glücklich wird. Sie hätte es niemals zugelassen, dass sie diesen Niklas heiratet, ihren Großcousin. Aber andererseits: Die meisten jungen Männer sind in diesem verfluchten Krieg umgekommen. Die Auswahl an gesunden Männern ist nicht mehr allzu groß. Nicht nur um Micha, auch um Margarete macht sie sich Sorgen. Sie will nicht erleben, dass eines ihrer Kinder vor ihr stirbt. Micha erbt den Hof. Aber was soll aus ihrer Tochter werden, wenn der Krieg vorbei ist? Sie braucht einen Mann. Johann zermartert sich darüber nicht den Kopf. Anna hat ihn schon früh die Treppe herunterpoltern hören. Er ist aufgestanden, hat sich seine braune Hakenkreuzuniform angezogen, einen schwarzen Kaffee aufgebrüht, und dann hat er das Haus verlassen, seit Wochen schlecht gelaunt, weil seine Nazifreunde keine Siege mehr verkünden können. Am besten ist es, man geht ihm aus dem Weg.
Anna hat an diesem Morgen viel Zeit vertrödelt. Sie zieht sich rasch an, legt etwas Holz im Schlafzimmer-
ofen nach. Eine Woche noch bis Palmsonntag, und sie muss noch die Fußböden schrubben und wachsen und im Haus klar Schiff machen, wieder einmal steht Ostern vor der Tür, und wieder einmal glänzt Johann den ganzen Tag über durch Abwesenheit. Er zieht von Hof zu Hof, die Moral der Bauern liege am Boden, sagt er, wenn er abends müde heimkommt. Auch Anna weiß, dass alliierte Fliegerbomben auf die deutschen Städte prasseln. Beim neunundsiebzigsten, dem letzten Luftangriff auf Osnabrück an Palmsonntag, am Vormittag des 25. März 1945, kommen mindestens einhundertachtundsiebzig Menschen ums Leben, die noch verbliebenen Gebäude in der Altstadt werden nahezu vollständig zerstört. An diesem Tag kommt der Ortsbauernführer spätabends besonders mürrisch heim, zieht die Stiefel aus, wirft sie in die Ecke, setzt sich an den Tisch, schlürft seine Suppe und verschwindet gleich darauf mit herunterhängenden Mundwinkeln und ohne ein ‚Gute Nacht‘ in seine Bettkammer.
Anna muss in diesen Tagen die Stuben säubern, sie wachst die Dielen mit Ochsenblut, damit sie an Ostern glänzen. So ist es Brauch, das Dorf macht sich für Ostern fein, egal, ob die Welt um sie herum zusammenkracht. Noch spielt Johann dann und wann auf seiner Mundharmonika. Noch werden am Abend auf seine Anordnung hin alle Fenster verdunkelt, noch stapfen sie im Dunkeln zu Fuß zur Frühmesse ins Nachbardorf durch den langsam schmelzenden Schnee, egal ob ein Tiefflieger sie erspäht – nur das »Oh du fröhliche« singt keiner mehr. Die Häuser sind voller einquartierter Frauen und Kinder aus der Stadt, die vor den Bomben fliehen, die auf Köln, Düsseldorf, Hannover, München, Berlin und Kiel niederregnen. Da ist die Luft schwarz. Hier haben sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Hier gibt es noch genug zu essen. Soll sie wirklich, wie jedes Frühjahr, den Holzboden schrubben? Anna denkt an die Männer an der Ostfront, die mit den vielen Flüchtlingen auf dem Rückzug sind – rette sich, wer kann. Ihr fällt ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium ein, den die Küsterhelferin Christel immer zitiert: »Bittet aber, dass eure Flucht nicht im Winter geschehe.«
Anna beschließt, den Fußboden in diesem Jahr nicht zu bohnern. Es ist sinnlos.
Als sie die knarrenden Stufen der alten Treppe hinabsteigt, ziehen noch einmal die Bilder jenes Tages an ihr vorüber, als sie Johann auf dem Marktplatz kennenlernte. Einen Augenblick lang bleibt sie auf den Stufen stehen und schließt die Augen. Eine wohlige Wärme durchfließt ihren Körper. Fast schämt sie sich. Die Menschen sind in Sorge, sie haben keine schönen Träume. Anna gibt sich einen Ruck und geht in die Küche. Sie legt kleine Holzspäne auf die Reste der Glut im Herd, sie beginnen zu glimmen, fangen Feuer. Sie schiebt weitere Holzscheite nach und will gerade die Luftklappe schließen, als es an ihre Küchentür klopft. Wo ist Margarete, fährt es ihr durch den Kopf. Sicher schläft sie noch. Auch Mathilde, Will und Lissy haben noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Anna liebt diese Zeit, sie liebt die Frühe. Dann ist es still. Dann ist sie mit sich allein. Sie hat sich gerade heiße Milch aufgebrüht und sich an den leeren Tisch gesetzt. Noch einmal klopft es. Anna erwartet niemanden, und eigentlich will sie keinen hereinlassen und mit niemandem reden; sich diese Stille nicht zerstören lassen. Sie dreht sich zur Tür um, die sich im selben Augenblick öffnet: Da steht er vor ihr: Micha, ihr Sohn! Mit ihm hat sie am wenigsten gerechnet. Sie schlägt die Hände vor den Mund und stößt einen so hellen Seufzer aus, dass er das ganze Haus aufzuwecken vermag. Wie es unerwartet in ihr wühlt und bebt! Ihr wird schwindelig vor Freude, fast ohnmächtig fällt sie in seine Arme. Sein Rucksack knallt dumpf auf die hölzernen Dielen.
»Micha!«
»Mutter!«
»Mein Sohn!«
Sie klammert sich an ihn, am liebsten würde sie ihn an sich ketten.
»Du lebst, mein Gott, du lebst! Der Herrgott hat unsere Gebete erhört«, stammelt sie.
Langsam kommt sie wieder zu sich. Micha setzt sich an den Tisch. Es fällt ihm schwer. Er ist verwundet.
»Dein Bein!«
»Ja, ich habe was abgekriegt. Halb so schlimm«, sagt er. Er werde es ihr erzählen. Aber nicht jetzt. Er habe Hunger. »Es riecht so gut in deiner Küche!«
»Ich habe einen Streuselkuchen gebacken«, sagt sie und stellt keine weiteren Fragen.
Micha hat Hunger wie ein Bär, Anna huscht aus der Küche. Sie holt einen Laib Brot aus der Speisekammer.
»Es ist ganz frisch«, sagt sie und hockt sich zu ihrem Sohn an den Tisch.
»Frisches Brot«, sagt er leise.
Anna ritzt mit dem Messer ein Kreuz ein, sie murmelt ‚Gott segne dieses Brot’ vor sich hin, schneidet es an und reicht ihm eine dicke Scheibe. Er hält die Brotschnitte an seine Nase.
»Ich hatte diesen Geruch fast vergessen. Dafür weiß ich jetzt, wie Pulver riecht.«
Anna kommt mit einem Schöpflöffel, nimmt den Teller, füllt ihn mit Haferflockensuppe. Micha trägt einen Bart. Er ist abgemagert, tunkt die Brotscheibe in den Napf. Anna