Der meergrüne Tod. Hans-Jürgen Setzer

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Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer

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fest. Schließlich handelte es sich um einen Jugendlichen, der dafür die Zustimmung der Eltern benötigte. Vielleicht funktionierte also ausnahmsweise irgendetwas in Richtung Jugendschutz.

      Für jeden Personalchef wären die Einträge ein gefundenes Fressen: Angegebene Hobbys waren „Saufen, huren, abhängen, grenzüberschreitende Erfahrungen“.

      Na, da hatte Leon natürlich so seine eigenen Vorstellungen, was mit grenzüberschreitenden Erfahrungen gemeint sein könnte.

      „Hm, irgendwie kommt wirklich alles mal wieder. Genau solche Typen gab es schon einmal. Verdammt, wo geht der Bengel nur zur Schule. Das wäre jetzt hilfreicher. Da, jaaa, Bingo: Astrid-Lindgren-Gesamtschule, Koblenz. Danke, Julian. Dann werde ich dir und deiner Penne mal einen Besuch abstatten.“

      Auch noch die andere Wange hinhalten?

      Leon ging zu Fuß vom Münzplatz zur Astrid-Lindgren-Gesamtschule. Sie lag einige Straßen weiter. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm guttun und erschien ihm unauffälliger als mit seinem Dienstwagen dort vorzufahren. Plötzlich hielt ein kleiner Wagen mit quietschenden Bremsen direkt neben Leon.

      „Hey, Walters, haste ne Panne? Komm, ich nehm dich mit.“ Sein Kollege aus der Sportredaktion war heute so lästig wie eine Schmeißfliege und extrem hilfreich dabei, seine verdeckte Ermittlung auffliegen zu lassen.

      „Nein, danke, Herr Kollege, für das nette Angebot. Ich muss etwas zu Fuß erledigen. Fahr du mal allein zu deinen attraktiven Handballdamen, sonst versaue ich dir dort die Quote.“ Leon lächelte dem Kollegen zu und ging weiter. „Schon komisch. Wenn ich wirklich eine Panne hätte, könnte ich wahrscheinlich kreuz und quer durch Koblenz laufen, hätte schon Blasen an den Füßen und niemand würde mir helfen, aber heute?“ Er schüttelte mit dem Kopf.

      Da war sie schon: Die Astrid-Lindgren-Gesamtschule, wie er deutlich in großen Buchstaben am Gebäude lesen konnte. Es war ein älteres Gebäude, hässlich und grau, so wie sie in den Siebziger- oder Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gebaut wurden. An der Betonfassade waren als einzige Zierde Ornamente eingegossen, natürlich ebenfalls in dezentem Grau. „Grau schafft bekanntlich eine fröhliche Lernatmosphäre und verbessert ungemein die Stimmung“, dachte Leon zynisch. Hie und da hatten sich die Schülergenerationen mit Graffitis Luft gemacht.

      In einem ähnlichen Gebäude hatte, vor einer zunehmenden Zahl von Jahren, der etwas jüngere Leon seine Stunden, Tage, Wochen und Jahre absitzen müssen. Er sah in einem Klassenraum im Erdgeschoss einen Lehrer an der Tafel und vor seiner Klasse unterrichten. Welches Fach mochte es wohl gerade sein?

      Kurz schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Leon ging recht gerne zur Schule. Er war ein guter Schüler gewesen. Nur einige wenige Fächer entdeckte er erst nach Ende seiner Schulzeit, wie Deutsch, Geschichte, Sozialkunde. Hier hatte die Lehrerin es einfach nicht geschafft, einen Funken von Begeisterung auf die Schüler überspringen zu lassen. Na ja, jedenfalls nicht auf ihn.

      Ein sehr bekannter deutscher Gehirnforscher hatte schon vor 25 Jahren in vielen Vorträgen immer wieder betont, was für ein wirksames Lernen wichtig sei: Eine Atmosphäre ohne Angst zu schaffen gehörte dazu, um mit Begeisterung den Schülern zu vermitteln, wie spannend die Welt sein konnte. Auf keinen Fall sollte man Wissen mit Strafen einprügeln. Es bleibt dann mit viel Glück zwar im Gedächtnis haften, aber gekoppelt mit dem empfundenen Schmerz. Schmerzen schaffen ja bekanntlich selten und nur bei sehr wenigen Menschen wirklich Begeisterung.

      Leon wusste noch, wie in der Grundschule das Kopfrechnen im kleinen und großen Einmaleins geübt wurde. Es mussten bei diesen Übungen alle Schüler aufstehen und der schnellste Rechner durfte erleichtert wieder Platz nehmen. Er konnte es zum Glück gut genug, um sich schnell wieder hinsetzen zu können. So viel Glück hatte der kleine Uwe nicht. Als Letzter stand er meistens noch und rechnete selbst dann falsch. Leon sah es bildlich vor sich, wie der kleine Uwe, vor der ganzen Klasse, schön ans Fenster ins Licht gezogen wurde. Frau Werner schnappte sich dann mit ihrer rechten Hand seine Wange und packte sie wie mit einer Zange, zog daran, bis der daran befestigte Kopf ein Stück mit in die Richtung kam, ließ dann los, der Kopf flog zurück und die flache Hand hinterher, zurück auf die Wange. ‚Klatsch’, machte es. Nach mehreren falschen Ergebnissen wurde die Backe rot und irgendwann sogar mit einem Stich ins Blaue. Das wäre allenfalls für den Biologieunterricht nutzbar gewesen, um die Hautdurchblutung zu erklären, wie ein Bluterguss zunächst auf- und später über alle Regenbogenfarben wieder abgebaut würde. Die ganze Klasse schaute hilflos zu und vermutlich nicht nur Leon wusste nicht, wo er noch hinschauen sollte. Verstanden hatte Leon diese Strategie jedenfalls nie. Sie übertrug auch auf ihn eher ein Gefühl von Angst.

      „Schaut genau her, das könnte jedem von euch blühen. Also lernt und benehmt euch.“ Das sollte wohl die Botschaft sein.

      Vielleicht kam daher auch so sein leichtes Bauchkribbeln, wenn er den Fahrstuhl zum alten Paffrath betrat. Und in diesem Moment verstand er schlagartig, wieso er es kaum ertragen konnte, dabei zuzusehen, wenn einem anderen Menschen ein Unrecht geschah. Es war schlimmer, als selbst angegriffen zu werden. Aber er war stets bemüht, sich nach außen nichts von seinen Ängsten oder auch der Wut auf den Täter anmerken zu lassen.

      Jedenfalls verbreitete sich kurze Zeit später, mit einiger Genugtuung, das Gerücht, dass die Eltern von Uwe sich in der Schule beschwert hatten.

      „Gäbe es vielleicht eine winzige Spur von Hoffnung in dieser Welt?“, fragte sich damals der kleine Leon. Die Prügelstrafe und solche Erziehungsmethoden waren nämlich eigentlich viele Jahre zuvor aufgegeben worden. Gelernt hatte er persönlich viel bei der Dame, wofür er dankbar sein konnte. Ob jedoch Uwe jemals rechnen gelernt hatte, blieb für Leon leider im Verborgenen. Er hatte da jedenfalls so seine Zweifel. Vielleicht sollte er in Kürze mal nach dem Verbleib und den Rechenkünsten von Uwe schauen.

      Ein melodischer Gong holte Leon von seinem kleinen Ausflug in die Vergangenheit wieder zurück. Wegen der Träumerei bekam er durch seine Beobachtung bisher keinen Eindruck, ob sich in der Schule diesbezüglich etwas geändert hatte. Die Schüler strömten aus den zwei Eingängen wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen. Es schien große Pause zu sein. „Sehr gutes Timing“, dachte Leon. Er hatte eine gute Beobachtungsposition auf der anderen Straßenseite erwischt und konnte so den ganzen Schulhof überblicken.

      Schultüte oder Tüte in der Schule

      „Hm, zu nahe heran zu gehen, das könnte vielleicht gefährlich werden. Einen erwachsenen Mann in der Nähe einer Schule müssten die darauf sensibilisierten Lehrkräfte, jedenfalls positiv gedacht, als Pädophilen oder Drogendealer einstufen. Wieso gelang es überhaupt erwachsenen Dealern unbemerkt in die Nähe der Schüler zu kommen?“, fragte sich Leon und beobachtete möglichst viele Details auf dem immer voller werdenden Pausenhof.

      Er merkte, dass er sich die Frage vielleicht gerade selbst beantwortet haben könnte. „Wieso mussten es überhaupt Erwachsene sein. Es wäre doch viel genialer, Gleichaltrige auf den Schulhof zu schicken, um den Stoff unters Schülervolk zu bringen. Juristisch wäre denen sicher nichts anzuhaben, wenn sie erwischt würden. Sie hätten sowieso ständigen Kontakt zur Zielgruppe und deren Vertrauen damit ohnehin. Die Dealer könnten mit dieser Vorgehensweise außerdem schön diskret und sicher im Hintergrund bleiben.“ Leon merkte, dass er mit seinen Gedanken dem Ziel ein wenig nähergekommen sein könnte. Er musste jedenfalls auf die Wechselspiele zwischen den Kiddies viel genauer achten.

      „Scheiße, jetzt bräuchte ich ein Fernglas. Aber das würde ganz sicher auffallen. Die Dealer würden wohl kaum mit einer Rundumleuchte auf dem Kopf herumlaufen. Warum sollte ich nicht über den Schulhof in die Schule gehen, um als Vater eines zukünftigen Schülers einmal einige Informationen einzuholen? Das wäre doch unauffällig genug. Nur herumstehend gesehen

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