Der meergrüne Tod. Hans-Jürgen Setzer
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Leon merkte, dass er sich zwar am eigentlichen Tatort befand, es ihm vermutlich jedoch rein gar nichts nützen würde. Unauffällig könnte er sich in dieser Gruppe nicht bewegen, dafür war er nun einmal eindeutig zu alt.
Er müsste seine Recherchen woanders fortsetzen und würde vielleicht früher oder später zurückkommen müssen.
Leon lief noch eine Runde über das Schulgelände, nahm einige Eindrücke in sich auf, um dann in sein Erwachsenenleben zurückzukehren.
Da er ohnehin schon in der Stadt unterwegs war, ging er in einem kleinen Schlenker zum Koblenzer Polizeipräsidium. An der Pforte erklärte er sein Informationsbedürfnis zum Thema Drogen.
Der Pförtner telefonierte und sagte: „Oh, da haben Sie wirklich Glück, Herr Walters. Normalerweise geht das ohne Termin hier so gut wie nie. Polizeioberkommissar Matthies hat aber gerade ein paar Minuten Zeit, weil just im Moment eine Zeugenvernehmung ausgefallen ist. 2. Stock, Zimmer 208.“
Leon ging durch den Flur, nahm den Fahrstuhl in den zweiten Stock und klopfte an die Tür von Zimmer Nummer 208. ‚POK Matthies’ war an der Tür zu lesen.
„Herein.“
„Guten Morgen, Herr Oberkommissar. Leon Walters, vom Koblenzer Tageskurier. Vielen Dank, dass Sie sich ein paar Minuten Zeit für mich nehmen konnten.“
Hinter dem Schreibtisch saß ein etwa 45-jähriger, drahtiger Mann mit dunklem Oberlippenbart.
„Ja, Sie hatten Glück, mir ist eben ein Termin ausgefallen und in 30 Minuten habe ich erst den nächsten. Was wirklich Sinnvolles lässt sich mit der kurzen Zeit kaum anfangen. Was kann ich für Sie tun, Herr Walters? Bitte setzen Sie sich doch.“
„Danke! Wir schreiben für unsere Zeitung einen Artikel über Drogen im Schulmilieu und ich dachte mir, Sie als Profi könnten mir sicher einige Tipps und Erfahrungen mit auf den Weg geben, um die Recherchen in die richtigen Bahnen zu lenken.“ Leon versuchte möglichst, ihm viel Honig um den Bart zu schmieren.
„Was wollen Sie mit dem Artikel denn bewirken?“, fragte der Kommissar.
„Wir wollen versuchen darzustellen, wie Dealen an Schulen abläuft, was Eltern vorbeugend tun könnten und so weiter.“
„Das klingt vernünftig. Also, zunächst einmal sollten Sie wissen, dass die typischen Dealer auf dem Schulhof gar nicht auffallen. Das mussten wir über einige Jahre erst einmal lernen. Wir suchten lange nach den Erwachsenen mit den bösen Absichten. Es sind jedoch Klassenkameraden oder die älteren Schüler, die den jüngeren Schülern den Blödsinn mit- und beibringen. Erschreckend, oder?“
Leon musste innerlich schmunzeln. Schließlich hatte er mit einer einzigen Überlegung in wenigen Sekunden offensichtlich ein Rätsel gelöst, was die Polizei Jahre beschäftigt zu haben schien, jedenfalls, wenn die Aussage des Kommissars wörtlich zu nehmen war.
„Natürlich stecken in der weiteren Kette die Erwachsenen, die Dealer, Großhändler und so weiter. Die wirklich dicken Fische laufen leider Gottes nicht einfach auf dem Schulhof herum.“
„Ja, das dachte ich mir. Die machen sich die Hände sicher nicht schmutzig und sitzen schön im Warmen.“ Leon gab sich verständnisvoll.
„Am besten gebe ich Ihnen einmal unsere ganzen Lehrfilme und unser Aufklärungsmaterial und natürlich die Pressemappe mit. Dann könnten Sie sich in aller Ruhe einlesen und falls weitere Fragen auftauchen, machen wir einen gemeinsamen Termin aus. Wie wäre das? Ist das ein Angebot?“
„Ja, vielen Dank, Herr Oberkommissar. Das ist mehr, als ich heute erwartet habe. Das klingt sehr gut. Danke.“
„Dann lasse ich Ihnen alles von meiner Kollegin zusammenstellen und Sie nehmen es gleich mit. Hier ist für alle Fälle meine Karte. Sie wissen ja: die Polizei, dein Freund und Helfer. Wenn Sie vielleicht einfach noch einen kurzen Moment vor der Tür Platz nehmen würden? Die Kollegin bringt es Ihnen gleich.“ Polizeioberkommissar Matthies lächelte freundlich und zufrieden.
Die beiden verabschiedeten sich und nach etwa fünfzehn Minuten brachte eine hübsche, blonde Polizeibeamtin mit Pferdeschwanz das Material in einer Stofftasche und übergab es ihm.
„Wow, das ging ja schnell, vielen Dank. Und, wie ich sehe, gibt es nicht nur Freunde und Helfer, sondern auch sehr nette Freundinnen und Helferinnen.“
„Jep, wir sind auf dem Vormarsch und haben sogar bald die Mehrheit“, sagte sie etwas burschikos, dabei lächelte sie verschmitzt und verschwand gleich wieder.
„Schade, mit der wäre ich gerne mal die eine oder andere Streife gefahren“, dachte Leon neidisch.
Er betrachtete das Paket und merkte, dass nun einige Schreibtischarbeit auf ihn zukommen würde. Nur, irgendwie stand ihm heute nicht mehr der Sinn nach trockenem Aktenstudium. Er verließ das Präsidium und ging zurück zu seinem Wagen. Unterwegs überlegte er, ob er nicht Jennifer Koch und ihrem Sohn einen kleinen Besuch abstatten sollte, und fand diese Idee allemal besser als hinter dem Schreibtisch zu sitzen und zu lesen oder Filme über Drogen anzuschauen. Das könnte er immer noch machen. Also zückte er sein Handy, wählte die Nummer von Jennifer Koch und verabredete sich mit ihr.
In der Höhle des Löwen-Babys
Leon fuhr auf direktem Weg zur Wohnung der Familie Koch, denn Jennifer Koch zeigte sich am Telefon spontan bereit, mit ihm zu sprechen. Schon während des Telefonats waren ihr Druck und ihre Ungeduld spürbar. Er parkte direkt vor dem Haus im Schatten unter einem der Bäume der alleeartig angelegten Straße. Aus einem Mietshaus mit mindestens zehn Mietparteien rief sie schon aus dem dritten Stockwerk vom Balkon.
„Ich mache Ihnen auf, Herr Walters.“
Der Türsummer begrüßte ihn bereits und ließ die Tür aus dem Schloss gleiten. Leon konnte sich so die Suche auf den vielen Klingel- und Briefkastenschildern mit teilweise durchgestrichenen, überklebten oder gar nicht erst vorhandenen Namen ersparen. Das Treppenhaus war düster, schmutzig, voller Fahrräder und roch muffig. Leon ahnte bereits Schlimmes, als er sich die drei Stockwerke des Treppenhauses hochschleppte, denn einen Fahrstuhl gab es nicht.
„Guten Tag, Frau Koch“, sagte Leon etwas außer Puste zu der bereits in der offenen Tür wartenden Jennifer.
„Schön, Sie zu sehen, Herr Walters. Kommen Sie doch herein.“ Sie öffnete die Tür und bat ihn mit einer Handbewegung in die gute Stube. Sie trug noch ihre Küchenschürze, nahm sie ab und legte sie im Vorbeigehen auf einen mit Kleidern bedeckten Stuhl.
„Wir haben es ein wenig eng hier, jedoch für uns zwei reicht es. Klein, aber fein“, versuchte sie, die Lage zu entschuldigen.
Leon war überrascht. Mit so viel Liebe hatte Jennifer Koch ihre kleine Wohnung eingerichtet, dass es von außen und vom Treppenhaus her wie ein Kontrast wirkte. Kurz musste er über diese Fähigkeit der meisten Frauen nachdenken, die dem Durchschnittsmann einfach abging.