Der meergrüne Tod. Hans-Jürgen Setzer
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Читать онлайн книгу Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer страница 6
„Danke, das ist nett von Ihnen. Mit dem kleinen Einkommen tue ich, was ich kann. Wollen wir hier im Wohnzimmer Platz nehmen?“
„Gerne. Ich habe noch einige Fragen an Sie und dachte: Auge in Auge geht das besser als am Telefon.“
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee oder Tee oder lieber etwas Kaltes?“
„Ein Wasser wäre nett. Ich bin seit Stunden durch die Stadt gelaufen.“
„Kein Problem, bin gleich wieder da.“
In der Küche hörte er Gläserklirren. Kurz darauf kam Jennifer Koch mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser zurück und goss Leon und sich ein Glas Wasser ein.
„Danke.“ Leon nahm einen Schluck und lehnt sich im Sessel ein wenig zurück.
„Was kann ich denn für Sie tun, Herr Walters?“, fragte sie ungeduldig und auch spürbar ein wenig nervös.
„Es ist gar nicht so einfach, in der Schule an die entsprechenden ‚Zielpersonen’, wie wir sagen, heranzukommen. Ich müsste ein wenig mehr Informationen über Julian, seine Clique und sein Umfeld haben. Das würde mir die Arbeit vielleicht erleichtern“, erwiderte Leon und nahm einen Schluck Wasser.
„Klar, gerne. Was wollen Sie wissen?“
„Vielleicht erzählen Sie einfach ein wenig über die Kindheit von Julian, vor, während und nach der ADHS-Diagnose.“
„Okay. Also, von Achims Unfall, dies alles hatte ich Ihnen ja bereits erzählt. Er war meist auf Montage, hatte gut verdient und so konnte ich mich ganz der Erziehung von Julian widmen. Wir haben viel miteinander unternommen und hatten viele Kontakte zu anderen Familien. Es ging uns gut, würde ich sagen. An die Abwesenheit von Achim hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. Wir kannten es praktisch gar nicht anders. Julian entwickelte sich ganz normal und prächtig. Im Kindergarten gab es nie Probleme und auch nach der Einschulung lief es gut.“
„Es fing wirklich alles erst nach dem Unfall an?“, fragte Leon interessiert und ein wenig erstaunt.
„Ja, ich denke schon. Vorher ist mir jedenfalls nie etwas bei Julian aufgefallen. Natürlich waren wir als relativ junges Paar vielleicht nicht so abgesichert, wie es hätte sein sollen. Achim hatte ja nie Zeit. ‚Später’, hat er immer gesagt. Tja, und dazu kam es dann nicht mehr. Die Firma hatte eine kleine Lebensversicherung abgeschlossen und wir bekamen Witwen- und Waisenrente. Wirklich üppig ist das nicht, das kann ich Ihnen sagen. Die genossenschaftliche Unfallversicherung weigerte sich zu zahlen, weil sie darin eine grobe, selbst verschuldete Missachtung von Sicherheitsbestimmungen zu sehen glaubte. Damals haben wir erst richtig gemerkt, wie gut Achim vorher verdient hatte.“
„Lassen Sie mich raten. Sie mussten sofort arbeiten gehen, um die Familie über Wasser zu halten?“
„Genau so war es. Julian hatte also nicht nur den Tod seines Vaters zu verkraften, sondern die Mutter, die vorher tagtäglich um ihn herum war, musste außerdem immer häufiger im Schichtdienst zur Arbeit. Julian musste in den Hort.“ Jennifer Koch schaute traurig zu ihm hin und wirkte schuldbeladen bei diesen letzten Sätzen.
„Sie waren Julian trotzdem eine gute Mutter. Sie waren schließlich zu einem hohen Anteil für ihn da. Was haben Sie überhaupt gearbeitet, wenn ich fragen darf?“
„Nichts Besonderes. Im Schichtdienst an der Maschine, Schraubenproduktion. Wir mussten die Schrauben auf Qualität überprüfen und anschließend verpacken. Früher hatten das Maschinen gemacht. Doch die Neuanschaffung, der in die Jahre gekommenen Prüf- und Sortiermaschinen, konnte sich die kleine Firma nicht leisten. Menschliche Arbeitskraft war dort plötzlich wieder gefragt. Zu einem Hungerlohn, natürlich. Die Arbeitszeiten wurden leider immer weiter ausgedehnt und ich war oft nicht zu Hause. Flexibilität wurde von allen Mitarbeitern selbstverständlich erwartet. Es spielte keine Rolle, dass ich eine alleinerziehende Mutter war. Wir brauchten das Geld. Zu allem Überfluss hatten sie mir nach kurzer Zeit die Witwenrente gekürzt. Ich würde zu viel verdienen, hieß es. Dass ich nicht lache.“
„Ja, gerecht ist die Welt nicht. Das fällt mir leider oft auf“, sagte Leon.
„Julian wurde immer zappeliger, träumte in der Schule, fiel in den Leistungen ab. Das ganze volle Programm. Können Sie sich vorstellen, wie sich eine Mutter dabei fühlt?“
„Ich glaube schon. Auf jeden Fall nicht gut.“
„Das können Sie laut sagen. Und einige Supermamis sagten mir obendrein: ‚Aufmerksamkeitsdefizit kann man zweiseitig sehen. Die Kinder haben nicht nur eines, sondern sie bekommen außerdem zu wenig Aufmerksamkeit.’ Ja, das hat mich echt aufgebaut. Danke! Und die Klassenlehrerin stieß ins selbe Horn.“
„Ja, das glaube ich. So eine Übermami kann einem das Leben sicher noch schwerer machen. Der Lehrerin könnte ich noch zugutehalten, sie hat es für Julian vielleicht sogar gut gemeint. Jedenfalls gingen Sie unter diesem Druck mit Julian zum Arzt?“
„Zum Kinder- und Jugendpsychiater. Der machte einige kurze Tests und sagte nach zwei Sitzungen, es sei ganz klar ADHS. Julian habe da eine Stoffwechselstörung und brauche dringend ein Medikament. Sicher habe auch der Tod von Achim mit dazu beigetragen, aber es sei ganz sicher auch ein biologisches Problem im System der Neurotransmitter. Es gäbe da ein neues Medikament und im Handumdrehen hätte ich wieder den lieben, konzentrierten, ausgeglichenen Julian. Tja, was hätten Sie gemacht?“
„Ich weiß es nicht. In dieser Situation habe ich zum Glück nie gesteckt“, antwortete Leon.
„Dann danken Sie Gott dafür. Möge es auch so bleiben. Es ist wirklich nicht leicht.“
„Wie ging es Julian eigentlich unter dem Medikament? Wurden die Probleme damit wenigstens beseitigt oder verringert?“ Leon schaute fragend zu Jennifer Koch.
Er hörte jemanden die Wohnungstür öffnen.
„Ah, jetzt können Sie ihn gleich selbst fragen, wie es sich angefühlt hatte. Julian kommt nach Hause.“
„Das trifft sich ja prima“, sagte Leon.
„Julian, Julian, kommst du mal, wir haben Besuch.“
Der junge Mann kam widerwillig und mit mürrischem Gesichtsausdruck ins Zimmer.
„Lass mich in Ruhe, ich bin müde.“
„Julian, sag doch wenigstens Hallo zu Herrn Walters. Er …“
„Ist mir doch egal, wen du wieder hier herumsitzen hast.“
„Julian“, sagte Jennifer Koch mit fester Stimme.
„Lassen Sie nur, ist schon in Ordnung.“ Leon wollte sie trösten. Er merkte, wie peinlich ihr diese Situation war.
Julian ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer und knallte die Türe zu.
Um die Situation ein wenig zu entkrampfen, bot Leon an, mit Jennifer Koch etwas essen zu gehen. Nach alldem fühlte sie sich nachvollziehbar nicht imstande, Julian jetzt allein zu lassen.
„Er macht dann nur wieder eine Dummheit. Lassen Sie uns das Gespräch auf morgen verschieben. Dann können wir, wenn Sie möchten, gerne eine Kleinigkeit