Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles

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Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles Die Legende lebt

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ist viel zu alt für dich«, meinte Bea. »Wenn du zwanzig bist, ist die schon vierzig.«

      »Na und?«

      »Vielleicht könnte es ja auch noch andere Gründe geben, weshalb Kirri und die Blonde von Abba –«

      »Agnetha«, verbesserte Annette, ein begeisterter Abba-Fan. Sie kannte alle Bandmitglieder mit Vor- und Zunamen.

      »– also, weshalb Agnetha und Kirri nicht so besonders gut zusammenpassen«, vollendete Hasso seinen Satz.

      »Genau«, rief Achim mit seinem breiten Mund laut in die Runde. »Was, wenn Agnetha nicht gut kochen kann?« Ein lauter Lacher auf Kirris Kosten.

      »Egal, dafür kann die singen«, meinte Bert.

      »Sicher hat Agnetha auch nichts Besseres zu tun, als für Kirri zu kochen!«, gab Annette zu bedenken.

      »Ich meinte ja auch nur, die 's' 'ne scharfe Braut«, stellte Kirri, von einer Diskussion, die er nie im Leben hatte lostreten wollen, sichtlich überfordert, klar. »Von Heiraten hab' ich nix gesagt.«

      »Aber von 'er Bettkante schubsen würdest du sie auch nicht, oder?«

      »Kommt drauf an, was sie da will«, kam Bea Kirri mit einer schlagfertigen Antwort zuvor. »Vielleicht Märchen vorlesen? Ich schlage vor: Froschkönig...«

      Alle außer Kirri lachten. Er hatte den Witz auch nicht verstanden. Wer sollte da der Frosch sein? Die ausgelassene Stimmung unter den jungen Schauspielern steigerte sich zusehends. Einige der anderen Gäste blickten schon seit geraumer Zeit immer wieder skeptisch zu den Jugendlichen herüber. Deren Heiterkeit tat das keinen Abbruch. Schließlich stiegen diverse Pegel so weit an, dass zotige Geschichten erzählt wurden. Über den reichhaltigsten Zoten-Schatz verfügte Achim. Unumstrittener Höhepunkt innerhalb dieser Sammlung war sein Witz über einen impotenten Ehemann beim Onkel Doktor. Wieder lachten alle bis auf einen. Diesmal war es Tim. Geduldig hatte er sich, um die anderen nicht zu verletzen und nicht als Stimmungstöter dazustehen, deren loses Geschwätz angehört, aber jetzt platzte dem sonst so besonnenen Schüler der Kragen. Entnervt sprang er von seinem Platz auf, zerknüllte seine Serviette und pfefferte sie unter den verblüfften Blicken der anderen Gäste auf den Tisch. Betretenes Schweigen. Nur das Geräusch, das Annettes Eislöffel erzeugte, als er ihr aus der Hand in die Schale zurückfiel, war zu hören. Sie hatte übrigens wirklich eine Schwäche für Tim. Er hatte es nur nie bemerkt.

      »Merkt ihr eigentlich noch was?«, rief Tim erbost. »Merkt ihr eigentlich, was für'n hirnlosen Scheiß ihr da labert, wie... gehirnamputiert sich das alles anhört? Wir feiern hier die erfolgreiche Aufführung des größten Theaterstücks des Sturm und Drang, und ihr... ihr macht alles kaputt! Kaputt! Wie 'ne Elefanten­herde im Porzellan­laden. – Ober, zahlen, getrennt!«

      »Aber Timmi...«

      »Was ist mit deinem Eis?«, fragte Annette verstört.

      »Das könnt ihr mit den übrigen Perlen vor die Säue kippen«, herrschte Tim sie an, zahlte und verließ mit Exerzierplatzschritten das Bellini.

      »Was meint er 'n damit?«, hätte Kirri gern gewusst.

      »Also, das«, versuchte Bea die Sache mit Ironie zu nehmen, »war mit Abstand sein stärkster Theaterauftritt!« Aber die Stimmung war im Eimer.

      4 Kino

      Zwei Tage lang sprach Tim mit seinen beiden besten Freunden nur das Nötigste. Danach renkte sich die Sache wieder ein. Hasso und Kirri war zwar klar geworden, dass er ihnen diesen verdorbenen Tag äußerst übelgenommen hatte, aber den Grund verstanden sie nicht so richtig. In ihrem Alter war es schließlich normal, über bestimmte Dinge zu reden.

      Tim vergaß diesen Tag nie. Es war für ihn ein denkwürdiger, ein historischer Tag, der in seinem Gedanken­tagebuch als »Tag des Sündenfalls« einen herausragenden Platz einnahm. Dieser Ausdruck hatte sich ihm geradezu aufgedrängt. Und vielleicht nahm hier bereits seinen Anfang, was fünf Jahre später dazu führen sollte, dass ihre Wege sich trennten und jeglicher Kontakt abriss. Vielleicht war dieser Sonntag im Mai der Anfang vom Ende ihrer vermeintlich unzerstörbaren Pyramide.

      Tim konnte überhaupt nicht begreifen, wie es möglich gewesen war, dass sich Hasso und Kirri so völlig ohne erkennbare Gegenwehr hatten mitreißen lassen von diesem Strudel loser Reden, dass sie sich sogar hatten hinreißen lassen, in diesen Chor respektloser und verdorbener Schandmäuler, die nichts als Fäulnis verbreiteten, mit einzustimmen, anstatt es ihm gleichzutun und sich in Wort und Tat angewidert davon zu distanzieren, wie es allein angemessen gewesen wäre. Charakterlos erschienen ihm seine Freunde, und in Sünde waren sie gefallen! Und das alles in Gegenwart von Mädchen, von Natur aus zarten und empfindsamen Geschöpfen, denen jedes derbe oder grobe Wort die Schamesröte ins Gesicht treiben musste! Jedenfalls glaubte er das damals. Die Tatsache, dass nicht nur diese Schamesröte ausgeblieben war, sondern die Mädchen sich auch noch weitgehend ungeniert an dem Geschwätz beteiligt hatten, anstatt schreiend oder wenigstens empört den Saal zu verlassen, brachte sein Weltbild zusätzlich ins Wanken. Würdelos war so was.

      Bis zu diesem Tag hatte Tim in einer behüteten und wohlgeordneten Welt gelebt, in der ihm zwar seine Eltern fehlten, ansonsten hatte er sich in ihr aber ganz gut eingerichtet. Immerhin waren da seine Freunde. Sie waren ihm alles, und er konnte sich nicht vorstellen, dass er anderswo auf der Welt bessere hätte finden können. Selbst die Lehrer hätte er trotz ihrer offensichtlichen Fehler und Schwächen um nichts in der Welt gegen andere eintauschen mögen. (Immerhin hatten diese Fehler sie schon oft Tränen lachen lassen.) Kurzum, das Schloss verlassen zu müssen wäre für ihn dem Untergang seiner Welt gleichgekommen. Natürlich hatte er auch schon vor dem Tag des Sündenfalls aus dem Mund von Schülern Zoten und derbe Ausdrücke vernommen, aber das waren die andern, die es nicht besser wissen konnten. In seine Welt, die aus seinen, Hassos und Kirris vier Wänden im Schloss bestand, war derlei bisher nicht eingedrungen. Sicherlich waren auch sie keine Menschen ohne Fehl und Tadel, aber Entgleisungen eines solchen Ausmaßes hatte er bei ihnen nie zuvor erlebt, jedenfalls war er sich keiner bewusst. Anders konnte es auch nicht sein. Er, Hasso und Kirri waren schließlich etwas Besonderes, nicht wie die andern. Das war sein Credo.

      Irgendwann, es schien jetzt ewig her zu sein, hatten sie feierlich gelobt, dass, wenn sie erst groß wären, sie nicht heiraten, sondern sich gemeinsam ein stattliches Anwesen kaufen würden, eine Art Festung, uneinnehmbar und unzerstörbar wie ihre Freundschaft, das Wirklichkeit gewordene Domizil, für das die Pyramide immer die Metapher gewesen war. Sie würden sich – Tims Idee – drei Hunde zulegen, für jeden einen, und dort gemeinsam leben, glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende. Die Finanzierung wäre kein Problem, denn sie würden alle gut verdienen, und außerdem sorgten bekanntlich nur Frauen im Leben eines Mannes für Geldprobleme. So hatten ihre Pläne ausgesehen. Jetzt auf einmal schien sich als Illusion, als Märchen herauszustellen, womit es Tim immer ernst gewesen war – den andern nicht? Jetzt auf einmal entpuppte sich ihre gemeinsame Festung als Luftschloss ohne jedes brauchbare Verteidigungs­bollwerk gegen den erbarmungs­losen Ansturm der Zeit, die, wie sich jetzt erwies, nicht nur Wunden heilen, sondern auch neue reißen konnte, die nagte, bis etwas unbrauchbar, grausam entstellt oder komplett verschwunden war. Sie hatte sich herangepirscht an das ruhige Gestade ihres Freundschaftsidylls und plötzlich zugeschlagen. Mit ihr gekommen waren diese neuen, fremden Mächte, eine tückische Nachhut, die seine besten Freunde auf einmal von »geilen Bräuten« faseln und über ebenso billige wie dreckige Witze lachen ließ, über impotente Männer beim Onkel Doktor, Huren im Fahrstuhl oder Mädchen wie Alexandra von Moers, die, wie er Hasso hatte sagen hören, angeblich »keine Möpse sondern Pingpong-Bälle

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