Magellan. Stefan Zweig
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Vasco da Gama
Miniatur im British Museum, London
Nur den Augenblick des letzten Atemholens vor dem großen Sprung bedeutet darum der Tod Enriques. Aber kaum hat der energische König João II. den Thron bestiegen, so setzt ein Anschwung ein, der alle Erwartungen übertrifft. Was bisher ärmlicher Schneckengang gewesen, wird mit einmal Sturmlauf und Löwensprung. Während man es gestern noch als grandiose Leistung verzeichnete, wenn innerhalb von zwölf Jahren die wenigen Meilen bis Kap Bojador ersegelt wurden und man nach abermals zwölf Jahren langsamen Vordringens glücklich Kap Verde erreicht hatte, bedeutet nun ein Vorstoß von hundert, von fünfhundert Meilen nichts Ungewöhnliches mehr. Vielleicht nur unsere Generation, welche die Eroberung der Luft miterlebt, wir, die wir ebenso im Anfang schon gejubelt, wenn nur drei, nur fünf, nur zehn Kilometer vom Champ de Mars ein Aeroplan in der Luft sich halten konnte, und die ein Jahrzehnt später schon Kontinente und Ozeane überflogen sahen, nur wir vielleicht können den glühenden Anteil, den erregten Jubel ganz begreifen, mit dem ganz Europa den plötzlichen Vorstoß Portugals ins Unbekannte begleitete. 1471 ist der Äquator erreicht, 1484 landet Diego Cam bereits an der Mündung des Kongo, und endlich 1486 erfüllt sich der prophetische Traum Enriques: der portugiesische Seefahrer Bartolomeu Diaz erreicht die Südspitze Afrikas, das Kap der Guten Hoffnung, das er freilich um der Stürme willen, denen er dort begegnet, zunächst noch Cabo tormentoso, das stürmische Vorgebirge, tauft. Aber wenn ihm auch das Wetter die Segel zerfetzt und den Mast zerspellt, der kühne Konquistador steuert entschlossen weiter. Schon ist er an die Ostküste Afrikas gelangt, und von hier könnten ihn mohammedanische Piloten leichthin nach Indien weiterbringen – da meutert die Mannschaft: genug sei für diesmal erreicht. Verwundeten Herzens muß Bartolomeu Diaz zurück, durch fremde Schuld den Ruhm verlierend, als erster Europäer den Seeweg nach Indien bezwungen zu haben, und ein anderer Portugiese, Vasco da Gama, wird um dieser Heldentat willen in Camoens' unsterblichem Gedicht gefeiert werden; wie immer bleibt der Beginner, der tragische Initiator, vergessen über dem glücklicheren Vollender. Immerhin: die entscheidende Tat ist getan. Zum erstenmal ist die geographische Gestalt Afrikas endgültig bestimmt, zum erstenmal gegen Ptolemäus bewiesen und erwiesen, daß der freie Seeweg nach Indien möglich sei. Den Lebenstraum Enriques haben seine Schüler und Erben ein Lebensalter nach ihrem Meister erfüllt.
Mit Staunen und Neid wendet die Welt jetzt ihren Blick diesem kleinen unbeachteten Seevolk im letzten Winkel Europas zu. Während sie, die Großmächte Frankreich, Deutschland, Italien, in unsinnigen Kriegen einander zerfleischten, hat Portugal, dieses Aschenbrödel Europas, seinen Lebensraum um das Tausendfache und Zehntausendfache erweitert; keine Anstrengung kann seinen unermeßlichen Vorsprung mehr einholen. Über Nacht ist Portugal die erste Seenation der Welt geworden, es hat sich durch seine Leistung nicht nur neue Provinzen, sondern ganze Welten gesichert. Ein Jahrzehnt noch und diese kleinste unter Europas Nationen wird den Anspruch erheben, mehr Weltraum zu besitzen und zu verwalten als das Römische Reich selbst zur Zeit seiner größten Ausbreitung.
Albuquerque
Handschriften-Miniatur im British Museum, London
Selbstverständlich muß ein derart übersteigerter imperialistischer Anspruch bei dem Versuch seiner Durchsetzung sehr bald die Kräfte Portugals erschöpfen. Jedes Kind könnte errechnen, daß ein so winziges Land, das im ganzen nicht mehr als anderthalb Millionen Einwohner zählt, auf die Dauer nicht allein ganz Afrika, Indien und Brasilien besetzen, kolonisieren, verwalten oder auch nur handelsmäßig monopolisieren kann und am allerwenigsten für ewige Zeiten gegen die Eifersucht der andern Nationen verteidigen. Ein einziger Öltropfen kann nicht ein aufgeregtes Meer glätten, ein stecknadelgroßes Land nicht hunderttausendfach größere Länder endgültig unterwerfen. Von der Vernunft aus gesehen, stellt also die schrankenlose Expansion Portugals eine Absurdität dar, eine Don Quichotterie gefährlichster Art. Aber immer ist ja das Heldische irrational und antirational, immer, wo ein Mensch oder ein Volk sich an eine Aufgabe wagt, die sein eigentliches Maß übersteigt, steigern sich auch seine Kräfte zu nie geahnter Stärke: nie vielleicht hat sich eine Nation großartiger in einen einzigen sieghaften Augenblick zusammengefaßt als Portugal um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts: nicht nur seinen Alexander, seine Argonauten schafft sich das Land plötzlich in Albuquerque, Vasco da Gama und Magellan, sondern auch in Camoens seinen Homer, in Barros seinen Livius. Gelehrte, Baumeister, große Kaufleute sind über Nacht zur Stelle: wie Griechenland unter Perikles, England unter Elisabeth, Frankreich unter Napoleon, verwirklicht in universaler Form ein Volk seine innerste Idee und stellt sie als sichtbare Tat vor die Welt. Eine unvergeßliche Weltstunde lang ist Portugal die erste Nation Europas, die Führerin der Menschheit gewesen.
Aber jede große Tat eines einzelnen Volks ist immer für alle Völker getan. Alle spüren sie, daß dieser eine erste Einbruch ins Unbekannte zugleich alle bisher gültigen Maße, Begriffe, Distanzgefühle umgestoßen hat, und mit pochender Ungeduld verfolgt man darum an allen Höfen, an allen Universitäten die neuesten Nachrichten aus Lissabon. Dank einer merkwürdigen Hellsichtigkeit begreift Europa das Schöpferische dieser welterweiternden portugiesischen Tat; es begreift, daß Seefahrt und Entdeckung bald entscheidender die Welt verändern werden als alle Kriege und Kartaunen, daß eine hundertjährige, eine tausendjährige Epoche, das Mittelalter, endgültig zu Ende ist und eine neue Zeit, die »Neuzeit«, beginnt, die in andern räumlichen Dimensionen denken und schaffen wird. Feierlich erhebt im Vollgefühl solchen historischen Augenblicks der Florentiner Humanist Politian als Sachwalter der friedlichen Vernunft die Stimme zum Ruhme Portugals, und der Dank des ganzen kultivierten Europa schwingt mit in seinen begeisterten Worten: »Nicht nur die Säulen des Herkules hat es hinter sich gelassen und einen wütigen Ozean bezähmt, sondern die bislang unterbundene Einheit der bewohnbaren Welt wiederhergestellt. Was für neue Möglichkeiten und wirtschaftliche Vorteile, welche Erhöhung des Wissens, welche Bestätigungen der alten Wissenschaft, die bisher als unglaubhaft verworfen wurden, dürfen wir noch erwarten! Neue Länder, neue Meere, neue Welten (alii mundi) sind aus jahrhundertelangem Dunkel aufgetaucht. Portugal ist heute der Hüter, der Wächter einer zweiten Welt.«
Ein verblüffender Zwischenfall unterbricht