Sealed. Stephan Kesper

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Sealed - Stephan Kesper

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am 24. Dezember stiefelte Hendrik durch eine Schicht dünnen Neuschnees die North-Lake Road entlang. Es waren nur wenige Autos unterwegs. Die Luft fühlte sich klar und kalt an, sein Atem bildete Wolken vor seinem Mund. Der Himmel, genau wie das Licht, blieben grau und verhießen weiteren Schnee.

      Hendrik bog in die Idaho Lane ab und steuerte auf die Nummer 32 zu, wo die Manchesters wohnten. Wie er wusste, wartete Rachel auf ihn. Ihr Vater hielt bis zum späten Nachmittag Vorlesungen an der Universität und ihre Mutter besuchte in San Diego eine ihrer Niederlassungen. Rachel würde gegen fünf mit ihrem Vater ihre Mutter vom Flughafen in North-Bend abholen und sie alle sollten um acht zu Hendriks Eltern kommen, zu einem gemeinsamen Weihnachtsessen. Das war der Plan.

      Hendriks Mutter hatte ihn aus der Küche geschickt, sie würde bis zum Abend genug zu tun haben, ohne dass er ihr im Weg herumsaß. Lakaien-Dienste musste sein Vater ausführen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als Rachels Einladung, zu ihr zu kommen, anzunehmen.

      Der Weg zur Veranda der Manchesters war glatt, er musste aufpassen, dass er sich nicht auf den Hintern setzte. Dann klingelte er. Einige Sekunden später machte Rachel die Tür nur einen Spalt auf und ließ ihn herein. Sie trug keinerlei Kleidung und strahlte ihn an, als er in der Diele stand und es bemerkte. Sie flog praktisch mit ihm an der Hand die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, schloss ab und riss ihm die Kleider vom Leib. Sie liebten sich, solange sie konnten.

      Gegen drei wurde das Risiko zu groß, dass ihr Vater unerwartet auftauchte. Sie gingen in die Küche und tranken Kaffee. Es hatte, wie erwartet, anfangen, in dicken Flocken zu schneien. Sie saßen nebeneinander an der Theke, hielten ihre heißen Tassen in den Händen und beobachteten durch die breiten Fenster, wie der Schnee langsam eine weiche, weiße Decke über den Garten legte. Das Licht wurde immer grauer und in der Küche wurde es düster, denn sie hatten die Lampen nicht angeschaltet. Rachel berührte sanft Hendriks Arm und flüsterte im Dämmerlicht: »Ich liebe dich«.

      Hendrik wollte antworten, doch sie legte ihm einen Finger auf den Mund. Jedes Wort konnte zu viel sein. Er versank in ihren dunklen Augen und ihr Blick war so voller Liebe, dass ihm die Brust zu platzen drohte.

      Dann klingelte es an der Tür.

      Sie löste sich langsam und ging zum Eingang. Irritiert nahm Hendrik wahr, dass auf die Wände der Küche blaue und rote Blicklichter fielen. Er stand auf und folgte Rachel.

      In der Diele standen zwei Polizisten. Hendrik erkannte einen davon als jene Polizistin, die sie nach der Schlammlawine gefunden hatte.

      Er ging zu Rachel, dicke Tränen liefen ihre Wangen hinab.

      »Es gab einen Unfall«, sagte sie, ergriff Hendriks Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte.

      »In welchem Krankenhaus liegt er?«, fragte sie.

      Die Polizistin suchte nach Worten, aber offensichtlich gab es keinen Weg, das, was sie zu sagen hatte, vorsichtig zu formulieren: »Kind, dein Vater ist von einem Lastwagen überrollt worden. Er war auf der Stelle tot.«

      Wie ein Faustschlag traf ihn diese Nachricht. Er konnte nicht denken, nicht fühlen, er war wie betäubt. Rachel warf sich in seine Arme, doch er konnte nicht reagieren. Er streichelte ihr abwesend mit der Hand über den Rücken, hörte sie schluchzen und nahm entfernt wahr, dass die Polizisten auf sie einredeten. Aber er verstand kein Wort von dem, was sie sagten.

      Sie nahmen Rachel mit. Sie mussten ihre Mutter am Flughafen abholen. Hendrik blieb alleine vor der Tür der Manchesters zurück, sah Rachel hinterher, die ihm aus dem Fond des Wagens einen Blick zuwarf, der sein Herz zerriss.

      Schnee fiel ihm auf den Kopf, mechanisch setzte er die Wollmütze auf. Seine Füße fanden automatisch den Weg in die Cedar-Road. Seine Mutter kam aus der Küche heraus, als er nicht auf ihre Fragen antwortete, die er gar nicht wahrgenommen hatte. Sie erschrak bei seinem Anblick. Er war bleich und sein Blick leer. Sie schob ihn in die warme Küche, setzte ihn auf einen Stuhl und verlangte von ihm, sofort zu erfahren, was passiert war.

      Sein Vater kam durch die Kellertür in die Küche, hielt zwei Dosen in seinen Händen und fragte: »Welche Bohnen wolltest du?«

      »Shh!«, rief sie ihm zu und drehte sich zu Hendrik.

      Er sah sie an und plötzlich konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

      »Mr. Manchester hatte einen Unfall. Er ist tot.«

      Sie hielt vor Entsetzen eine Hand vor den Mund und konnte sich nicht bewegen.

      »Oh, Sohn, das tut mir wirklich leid«, sagte sein Vater. Er legte Hendrik eine Hand auf die Schulter. Dann umarmte ihn seine Mutter.

      * * *

      Anfang Januar wurde er beerdigt. Es fanden sich mehr Menschen ein, als Hendrik zählen konnte. Nachbarn, Kollegen von der Uni, Freunde der Familie, Angestellte von Mrs. Manchesters Firma, selbst Kunden. Hendrik erkannte Ellie Thomson, die er am Observatorium kennengelernt hatte. Und viele andere, die er nicht zuordnen konnte.

      Das Loch in der Erde öffnete sich, wie ein dunkler Schlund, im Gegensatz zum Weiß des Schnees, der den restlichen Friedhof bedeckte.

      Er war Rachel in der letzten Woche aus dem Weg gegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Vielleicht wollte sie ihn nicht sehen, hatte ihren Kopf mit anderen Dingen voll. Und wenn er zu ihr ging, worüber sollten sie reden? Er wusste es einfach nicht und fühlte sich von seinen Eltern im Stich gelassen, die ihm keine Anleitung gegeben hatten, wie er sich in so einer Situation zu verhalten hatte.

      Ein Priester sprach Worte vom Jenseits, von einem besseren Leben, von Leid und Schuld. Sie fügten sich zu keinem sinnvollen Ganzen zusammen, Hendrik hörte auf, zuzuhören, und schaute sich um. An Rachels Augen blieb er hängen. Dunkle, schwarze Pupillen, die sich in ihn bohrten. Sie sah ihn direkt an und in ihrem Blick lag nichts mehr von jenem Blick, den sie ihm in der Küche geschenkt hatte. Er hielt nicht stand, er sah auf seine Füße und schämte sich.

      Zwei Tage nach der Beerdigung, zwang ihn seine Mutter, endlich zu Rachel zu gehen. Bevor er auf den Klingelknopf drücken konnte, riss sie die Tür auf.

      Ohne einen Augenblick zu zögern, schlug sie ihm mit der vollen Wucht des aufgestauten Ärgers ihre Hand ins Gesicht.

      »Wo warst du?«, schrie sie, so laut sie konnte. Ihre Stimme wurde von den Häusern der Straße zurückgeworfen.

      »Wo warst du, als ich dich am meisten gebraucht habe?«, fügte sie leiser hinterher.

      Hendrik starrte sie an und konnte kein Wort herausbringen. Ihr letzter Geduldsfaden riss, sie machte eine abwehrende Geste und warf die Tür ins Schloss.

      Er strich noch einmal über das Holz zum Abschied und drehte sich um.

      Rachel fehlte in der Schule für zwei Wochen. Als sie wieder kam und von ihren Mitschülern gemieden wurde, weil auch sie nicht gelernt hatten, mit dem Tod umzugehen, gab es keinen Suchscheinwerfer mehr wie früher. Er schaffte es, ihr meistens aus dem Weg zu gehen, obwohl er sich in jeder freien Minute nach ihr verzehrte. Er hatte zwei geliebte Menschen auf einmal verloren.

      Der Februar wurde ungewöhnlich warm und ließ den Schnee des Januars vergessen. Heftige Frühjahrs-Stürme peitschten den Pazifik an und überschwemmten Teile der Küste und den Highway. Wolken jagten über den Himmel und ließen immer wieder ein kleines Stück blau sehen.

      Hendrik

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