Sealed. Stephan Kesper
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Er hatte sich einen Katalog von Argumenten und Antworten auf mögliche Fragen zurechtgelegt. Aber trotzdem traute er sich nicht, den letzten Schritt zu machen.
Mitte Februar steckte im Vorgarten der Manchester das Schild eines Immobilienmaklers – das Haus sollte verkauft werden.
Als er Anfang März am Haus vorbeikam, standen riesige Möbelwagen davor. Kartons und leere Regale warteten auf der Wiese darauf, in die LKW's verladen zu werden. Ein einsames, braunes Sofa hielt Wache.
Er blieb stehen und feuerte sich innerlich an, endlich zu Rachel zu gehen, bevor es zu spät war.
Dann sah er sie aus der Garage heraus kommen. Sie trug staubige Arbeitsklamotten und ein buntes Kopftuch, das ihre Haare schützte. Sie hielt einen offensichtlich schweren Karton vor ihrer Brust und schleppte ihn die Auffahrt herunter zum offenen Transporter.
»Hallo Rachel«, sagte er sanft.
»Was willst du?«, antwortete sie. Nicht abweisend, eher weil sie noch so viel zu tun hatte, dass keine Zeit für lange Gespräche blieb.
Er gab sich selbst einen Tritt: »Was ich will ist, dass alles zwischen uns wieder so wie früher wird. Aber ich weiß, dass ich alles kaputt gemacht habe und ich weiß nicht, wie ich es in Ordnung bringen kann.«
Sie seufzte, zog sich das Tuch vom Kopf und strich sich durch ihre dunklen Haare.
»Ein angetrunkener Lastwagenfahrer hat alles kaputt gemacht. Du hast dich nur benommen wie ein Arsch.«
Er fühlte, wie seine Wangen heiß wurden.
»Wo zieht ihr hin?«, fragte er in einer Übersprunghandlung.
»San Francisco. Mom hat endlich ihren Willen durchgesetzt, damit sie sich besser um ihre Firma kümmern kann.«
»Willst du es denn?«
»Zumindest will ich nicht länger in diesem Haus leben, wo mich jede Ecke an meinen Vater erinnert«, ihre Stimme brach.
»Kann ich Euch helfen?«
Sie lächelte müde, »Hilfe können wir jede gebrauchen, die wir kriegen können. Auch, wenn du das bisher nicht mitbekommen hast.«
Er zog sofort die Jacke aus und warf sie mit seiner Schultasche auf einen der Stühle auf der Veranda. Rachel wartete an der Garage auf ihn und reichte ihm ein paar Arbeitshandschuhe. Dann zeigte sie auf das Regal, das die gesamte Breite der Rückwand einnahm und mit unnützem Kram vollgestopft war, von dem Hendrik sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand ihn aufheben wollte.
»Das alles, muss in die da«, dabei zeigte sie auf einen Stapel noch nicht gefalteter Umzugskartons, »und dann in den Transporter. Ganz einfach, keine Relativitätstheorie, sorry.«
Er stürzte sich in die Arbeit, damit sie nicht bemerkte, wie verzweifelt er war, dass sie wegzog.
»Braucht ihr das alles noch?«, fragte er, als er ein kaputtes Dreirad in einen Karton legte.
»Wir haben darüber geredet und keiner von uns will die Sachen durchsehen und Entscheidungen treffen. Also nehmen wir alles mit und sortieren später aus. Das Haus ist groß genug.«
Sie brauchten zwei Stunden, bis das Regal endlich leer vor ihnen stand.
»Ich brauche was zu trinken«, Rachel verließ die Garage durch die Seitentür. Dann kam sie noch einmal zurück und steckte ihren Kopf herein: »Du auch?«
Hendrik nickte und folgt ihr.
Die Küche befand sich in einem Zustand puren Chaos. Aber anscheinend hatten sie die Einrichtung mit dem Haus zusammen verkauft. Alles, was sich in den Schränken befunden hatte, stand auf dem Boden, den freien Fläche auf der Anrichte, der Arbeitsplatte und dem Esstisch. Halb leere Kartons standen dazwischen verteilt. Rachels Mutter saß auf dem Boden und versuchte aus ihrem angefangenen Durcheinander nachträglich schlau zu werden.
Rachel goss zwei Gläser Wasser ein und reichte Hendrik eins.
»Wie läuft es in der Garage?«, fragte Mrs. Manchester beiläufig, ohne aufzusehen.
»Mit Hendriks Hilfe bin ich schon fertig.«
Mrs. Manchester hob den Blick und lächelte Hendrik zu. »Schön, dass du mal wieder vorbeigekommen bist. Wir haben dich vermisst.«
»Ja, ich habe mich benommen wie ein Arsch«, er wiederholte Rachels Worte.
»Nun, so würde ich es nicht ausdrücken, aber: Ja«, sie nickte und lächelte sanft.
»Gut, dass du da bist. Wir haben für dich eine Kiste gepackt.«
Sie fragte Rachel: »Zeigst du sie ihm?«
Rachel ging vor und Hendrik folgte ihr in den ehemaligen Arbeitsbereich von James Manchester. Sie deutete auf einen Karton, auf dem Jemand mit einem Marker »Hendrik« geschrieben hatte. Er öffnete ihn und fand darin einige Mathematik- und Physikbücher. Sowie diverse persönliche Aufzeichnungen, zwei Notizbücher, in denen Manchester anachronistisch mit einem Stift herum-gekritzelt hatte. Und eine mobile Festplatte, von der Hendrik wusste, dass sie mit Manchesters Computer verbunden gewesen war.
»Sorry, der Computer gehörte der Uni. Den haben sie abgeholt«, Rachel zog die Schultern hoch.
»Das wollt ihr mir geben?«, fragte Hendrik.
»Wir können nichts damit anfangen. Und wir hatten die Hoffnung, dass du vielleicht wirklich Physik studierst und die Arbeit meines Vaters zu einem Abschluss führen könntest«, erklärte sie.
Hendrik fehlten die Worte, »Ich... ich...«, stammelte er, »ich verspreche, dass ich sie in Ehren halten werde.«
Rachel kam plötzlich auf ihn zu und umarmte ihn. Er drückte sein Gesicht in ihre Haare und lebte für einen Augenblick in ihrem Geruch. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
Sie drückte ihn fest an sich.
Da der Umzug in der folgenden Woche stattfand, erfand Hendriks Mutter eine Ausrede für die Schule, sodass er mitfahren konnte. Sie erreichten am Montagabend nach einer achtstündigen Fahrt mit Mrs. Manchesters Auto das neue Anwesen. Die Möbelwagen würden auf einem Gelände der Umzugsfirma in der Nacht ankommen, deshalb konnten sie nicht sofort mit dem Auspacken anfangen.
Das Gebäude lag im Sea Cliff Bezirk, einem kleinen, exklusiven Stadtteil. Das Haus sah so aus, als seien mehrere kleinere Bungalows zu einem Komplex zusammen geklebt worden. Es hatte einen dunkel grauen Anstrich und bordeauxfarbene Fensterrahmen. Von der Straße aus konnte man das Haus praktisch nicht sehen. Eine hohe Mauer und hochgewachsene Pflanzen verhinderten, dass Neugierige hineinsehen konnten. Im Inneren gab es einen großen Wohnraum, dessen hintere Wand nur aus Glas bestand. Von dort hatten sie eine atemberaubende Aussicht auf den weit unten liegenden Strand und in der Ferne auf die Golden-Gate Bridge.
Vom Wohnraum aus verzweigten sich Flure in die angrenzenden Gebäudeteile. Der rechte Teil würde zum neuen San Francisco Office der Firma werden, und der linke Teil zum Privatbereich.