Franz Kafka – Das Schloss. Franz Kafka

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Franz Kafka – Das Schloss - Franz Kafka

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vielleicht alles aus Stein gebaut war, aber der Anstrich war längst abgefallen und der Stein schien abzubröckeln. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen. Es stand diesem angeblichen Schlosse kaum nach, wäre es K. nur auf die Besichtigung angekommen, dann wäre es schade um die lange Wanderschaft gewesen und er hätte vernünftiger gehandelt, wieder einmal die alte Heimat zu besuchen, wo er schon so lange nicht gewesen war. Und er verglich in Gedanken den Kirchturm der Heimat mit dem Turm dort oben. Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern geradewegs nach oben sich verjüngend, breitdachig, abschließend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Hausvergemenge und mit klarerem Ausdruck, als ihn der trübe Werktag hat. Der Turm hier oben – es war der einzige sichtbare – der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Efeu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten, etwas Irrsinniges hatte das, und einem söllerartigen Abschluss, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmäßig, brüchig, wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet, sich in den blauen Himmel zackten. Es war, wie wenn ein trübseliger Hausbewohner, der gerechterweise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen.

      Wieder stand K. still, als hätte er im Stillestehen mehr Kraft des Urteils. Aber er wurde gestört. Hinter der Dorfkirche, bei der er stehengeblieben war – es war eigentlich nur eine Kapelle, scheunenartig erweitert, um die Gemeinde aufnehmen zu können – war die Schule. Ein niedriges langes Gebäude, merkwürdig den Charakter der Provisorischen und des sehr Alten vereinigend, lag es hinter einem umgitterten Garten, der jetzt ein Schneefeld war. Eben kamen die Kinder mit dem Lehrer heraus. In einem dichten Haufen umgaben sie den Lehrer, aller Augen blickten auf ihn, unaufhörlich schwatzten sie von allen Seiten, K. verstand ihr schnelles Sprechen gar nicht. Der Lehrer, ein junger, kleiner, schmalschultriger Mensch, aber ohne dass es lächerlich wurde, sehr aufrecht, hatte K. schon von der Ferne ins Auge gefasst, allerdings war außer seiner Gruppe K. der einzige Mensch weit und breit. K. als Fremder grüßte zuerst, gar einen so befehlshaberischen kleinen Mann. „Guten Tag, Herr Lehrer“, sagte er. Mit einem Schlag verstummten die Kinder, diese plötzliche Stille als Vorbereitung für seine Worte mochte wohl dem Lehrer gefallen. „Ihr sehet das Schloss an?“ fragte er, sanftmütiger, als K. erwartet hatte, aber in einem Tone, als billige er nicht das, was K. tue. „Ja“, sagte K., „ich bin hier fremd, erst seit gestern Abend im Ort.“ „Das Schloss gefällt Euch nicht?“ fragte der Lehrer schnell. „Wie?“ fragte K. zurück, ein wenig verblüfft, und wiederholte in milderer Form die Frage: „Ob mir das Schloss gefällt? Warum nehmet Ihr an, dass es mir nicht gefällt?“ „Keinem Fremden gefällt es“, sagte der Lehrer. Um hier nichts Unwillkommenes zu sagen, wendete K. das Gespräch und fragte: „Sie kennen wohl den Grafen?“ „Nein“, sagte der Lehrer und wollte sich abwenden. K. gab aber nicht nach und fragte nochmals: „Wie? Sie kennen den Grafen nicht?“ „Wie sollte ich ihn kennen?“ sagte der Lehrer leise und fügte laut auf Französisch hinzu: „Nehmen Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unschuldiger Kinder.“ K. holte daraus das Recht zu fragen: „Könnte ich Sie, Herr Lehrer, einmal besuchen? Ich bleibe längere Zeit hier und fühle mich schon jetzt ein wenig verlassen, zu den Bauern gehöre ich nicht und ins Schloss wohl auch nicht.“ „Zwischen den Bauern und dem Schloss ist kein Unterschied“, sagte der Lehrer. „Mag sein“, sagte K., „das ändert an meiner Lage nichts. Könnte ich Sie einmal besuchen?“ „Ich wohne in der Schwanengasse beim Fleischhauer.“ Das war nun zwar mehr eine Adressenangabe als eine Einladung, dennoch sagte K.: „Gut, ich werde kommen.“ Der Lehrer nickte und zog mit dem gleich wieder losschreienden Kinderhaufen weiter. Sie verschwanden bald in einem jäh abfallenden Gässchen.

      K. aber war zerstreut, durch das Gespräch verärgert. Zum ersten Mal seit seinem Kommen fühlte er wirkliche Müdigkeit. Der weite Weg hierher schien ihn ursprünglich gar nicht angegriffen zu haben, wie war er durch die Tage gewandert, ruhig, Schritt für Schritt! – jetzt aber zeigten sich doch die Folgen der übergroßen Anstrengung, zur Unzeit freilich. Es zog ihn unwiderstehlich hin, neue Bekanntschaften zu suchen, aber jede neue Bekanntschaft verstärkte die Müdigkeit. Wenn er sich in seinem heutigen Zustand zwang, seinen Spaziergang wenigstens bis zum Eingang des Schlosses auszudehnen, war übergenug getan.

      So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Straße nämlich, diese Hauptstraße des Dorfes, führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., dass nun endlich die Straße zum Schloss einlenken müsse, und nur weil er es erwartete, ging er weiter; offenbar infolge seiner Müdigkeit zögerte er, die Straße zu verlassen, auch staunte er über die Länge des Dorfes, das kein Ende nahm, immer wieder die kleinen Häuschen und vereisten Fensterscheiben und Schnee und Menschenleere – endlich riss er sich los von dieser festhaltenden Straße, ein schmales Gässchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füße war eine schwere Arbeit, Schweiß brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter.

      Nun, er war ja nicht verlassen, rechts und links standen Bauernhütten. Er machte einen Schneeball und warf ihn gegen ein Fenster. Gleich öffnete sich die Türe – die erste sich öffnende Türe während des ganzen Dorfweges – und ein alter Bauer in brauner Pelzjoppe, den Kopf seitwärts geneigt, freundlich und schwach, stand dort. „Darf ich ein wenig zu Euch kommen?“ sagte K., „ich bin sehr müde.“ Er hörte gar nicht, was der Alte sagte, dankbar nahm er es an, dass ihm ein Brett entgegengeschoben wurde, das ihn gleich aus dem Schnee rettete, und mit ein paar Schritten stand er in der Stube.

      Eine große Stube im Dämmerlicht. Der von draußen Kommende sah zuerst gar nichts. K. taumelte gegen einen Waschtrog, eine Frauenhand hielt ihn zurück. Aus einer Ecke kam viel Kindergeschrei. Aus einer anderen Ecke wälzte sich Rauch und machte aus Halblicht Finsternis. K. stand wie in Wolken. „Er ist ja betrunken“, sagte jemand. „Wer seid Ihr?“ rief eine herrische Stimme und wohl zu dem Alten gewendet: „Warum hast du ihn hereingelassen? Kann man alles hereinlassen, was auf der Straße herumschleicht?“ „Ich bin der gräfliche Landvermesser“, sagte K. und suchte sich so vor den noch immer Unsichtbaren zu verantworten. „Ach, es ist der Landvermesser“, sagte eine weibliche Stimme, und nun folgte eine vollkommene Stille. „Ihr kennt mich?“ fragte K. „Gewiss“, sagte noch kurz die gleiche Stimme. Dass man K. kannte, schien ihn nicht zu empfehlen. Endlich verflüchtigte sich ein wenig der Rauch und K. konnte sich langsam zurechtfinden. Es schien ein allgemeiner Waschtag zu sein. In der Nähe der Tür wurde Wäsche gewaschen. Der Rauch war aber aus der andern Ecke gekommen, wo in einem Holzschaff, so groß, wie K. noch nie eines gesehen hatte, es hatte etwa den Umfang von zwei Betten, in dampfendem Wasser zwei Männer badeten. Aber noch überraschender, ohne dass man genau wusste, worin das Überraschende bestand, war die rechte Ecke. Aus einer großen Lücke, der einzigen in der Stubenrückwand, kam dort, wohl vom Hof her bleiches Schneelicht und gab dem Kleid einer Frau, die tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl müde fast lag, einen Schein wie von Seide. Sie trug einen Säugling an der Brust. Um sie herum spielten paar Kinder, Bauernkinder, wie zu sehen war, sie aber schien nicht zu ihnen zu gehören, freilich, Krankheit und Müdigkeit macht auch Bauern fein.

      „Setzt Euch!“ sagte der eine der Männer, ein Vollbärtiger, überdies mit einem Schnurrbart, unter dem er den Mund schnaufend immer offen hielt, zeigte, komisch anzusehn, mit der Hand über den Rand des Kübels auf eine Truhe hin und bespritzte dabei K. mit warmem Wasser das ganze Gesicht. Auf der Truhe saß schon, vor sich hindämmernd, der Alte, der K. eingelassen hatte. K. war dankbar, sich endlich setzen zu dürfen. Nun kümmerte sich niemand mehr um ihn. Die Frau beim Waschtrog, blond, in jugendlicher Fülle, sang leise bei der Arbeit, die Männer im Bad stampften und drehten sich, die Kinder wollten sich ihnen nähern, wurden aber durch mächtige Wasserspritzer, die auch K. nicht verschonten, immer wieder zurückgetrieben, die Frau im Lehnstuhl lag wie leblos, nicht einmal auf das Kind an ihrer Brust blickte sie hinab, sondern unbestimmt in die Höhe.

      K. hatte sie wohl lange angesehen, dieses sich nicht

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