Franz Kafka – Das Schloss. Franz Kafka
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2. Kapitel
[Barnabas]
Als sie – K. erkannte es an einer Wegbiegung – fast beim Wirtshaus waren, war es zu seinem Erstaunen schon völlig finster. War er so lange fort gewesen? Doch nur ein, zwei Stunden etwa nach seiner Rechnung. Und am Morgen war er fortgegangen. Und kein Essenbedürfnis hatte er gehabt. Und bis vor Kurzem war gleichmäßige Tageshelle gewesen, erst jetzt die Finsternis. „Kurze Tage, kurze Tage“, sagte er zu sich, glitt vom Schlitten und ging dem Wirtshaus zu.
Oben auf der kleinen Vortreppe des Hauses stand, ihm sehr willkommen, der Wirt und leuchtete mit erhobener Laterne ihm entgegen. Flüchtig an den Fuhrmann sich erinnernd blieb K. stehn, irgendwo hustete es im Dunkeln, das war er. Nun, er würde ihn ja nächstens wiedersehen. Erst als er oben beim Wirt war, der demütig grüßt, bemerkte er zu beiden Seiten der Tür je einen Mann. Er nahm die Laterne aus der Hand des Wirts und beleuchtete die zwei; es waren die Männer, die er schon getroffen hatte und die Artur und Jeremias angerufen worden waren. Sie salutierten jetzt. In Erinnerung an seine Militärzeit, an diese glücklichen Zeiten, lachte er. „Wer seid Ihr?“ fragte er und sah von einem zum andern. „Euere Gehilfen“, antworteten sie. „Es sind die Gehilfen“, bestätigte leise der Wirt. „Wie?“ fragte K. „Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte?“ Sie bejahten es. „Das ist gut“, sagte K. nach einem Weilchen, „es ist gut, dass Ihr gekommen seid.“ „Übrigens“, sagte K. nach einem weiteren Weilchen, „Ihr habt euch sehr verspätet, Ihr seid sehr nachlässig.“ „Es war ein weiter Weg“, sagte der eine. „Ein weiter Weg“, wiederholte K., „aber ich habe Euch getroffen, wie Ihr vom Schlosse kamt.“ „Ja“, sagten sie ohne weitere Erklärung. „Wo habt Ihr die Apparate?“ fragte K. „Wir haben keine“, sagten sie. „Die Apparate, die ich Euch anvertraut habe“, sagte K. „Wir haben keine“, wiederholten sie. „Ach, seid Ihr Leute!“ sagte K., „versteht Ihr etwas von Landvermessung?“ „Nein“, sagten sie. „Wenn Ihr aber meine alten Gehilfen seid, müsst Ihr das doch verstehen“, sagte K. Sie schwiegen. „Dann kommt also“, sagte K. und schob sie vor sich ins Haus.
[Max-Brod-Ausgabe: Kapitel 2: Barnabas]
Sie saßen dann zu dritt ziemlich schweigsam in der Wirtsstube beim Bier, an einem kleinen Tischchen, K. in der Mitte, rechts und links die Gehilfen. Sonst war nur ein Tisch mit Bauern besetzt, ähnlich wie am Abend vorher. „Es ist schwer mit Euch“, sagte K. und verglich wie schon öfters ihre Gesichter, „wie soll ich Euch denn unterscheiden. Ihr unterscheidet Euch nur durch die Namen, sonst seid Ihr Euch ähnlich wie“ – er stockte, unwillkürlich fuhr er dann fort – „sonst seid Ihr Euch ja ähnlich wie Schlangen.“ Sie lächelten. „Man unterscheidet uns sonst gut“, sagten sie zur Rechtfertigung. „Ich glaube es“, sagte K., „ich war ja selbst Zeuge dessen, aber ich sehe nur mit meinen Augen und mit denen kann ich Euch nicht unterscheiden. Ich werde Euch deshalb wie einen einzigen Mann behandeln und beide Artur nennen, so heißt doch einer von Euch, du etwa?“ – fragte K. den einen. „Nein“, sagte dieser, „ich heiße Jeremias.“ „Es ist ja gleichgültig“, sagte K., „ich werde euch beide Artur nennen. Schicke ich Artur irgendwohin, so geht Ihr beide, gebe ich Artur eine Arbeit, so macht Ihr sie beide, das hat zwar für mich den großen Nachteil, dass ich Euch nicht für gesonderte Arbeit verwenden kann, aber dafür den Vorteil, dass Ihr für alles, was ich Euch auftrage, gemeinsam ungeteilt die Verantwortung tragt. Wie Ihr unter Euch die Arbeit aufteilt, ist mir gleichgültig, nur ausreden dürft Ihr Euch nicht aufeinander, Ihr seid für mich nur ein einziger Mann.“ Sie überlegten das und sagten: „Das wäre uns recht unangenehm.“ „Wie denn nicht“, sagte K., „natürlich muss Euch das unangenehm sein, aber es bleibt so.“ Schon ein Weilchen lang hatte K. einen der Bauern den Tisch umschleichen sehn, endlich entschloss er sich, ging auf einen Gehilfen zu und wollte ihm etwas zuflüstern. „Verzeiht“, sagte K., schlug mit der Hand auf den Tisch und stand auf, „dies sind meine Gehilfen und wir haben jetzt eine Besprechung. Niemand hat das Recht, uns zu stören.“ „O bitte, o bitte“, sagte der Bauer ängstlich und ging rücklings zu seiner Gesellschaft zurück. „Dieses müsst Ihr vor allem beachten“, sagte K. dann wieder sitzend. „Ihr dürft mit niemand ohne meine Erlaubnis sprechen. Ich bin hier ein Fremder, und wenn Ihr meine alten Gehilfen seid, dann seid auch Ihr Fremde. Wir drei Fremde müssen deshalb zusammenhalten, reicht mir daraufhin Eure Hände.“ Allzu bereitwillig streckten sie sie K. entgegen. „Lasst Euch die Pratzen“, sagte er, „mein Befehl aber gilt. Ich werde jetzt schlafen gehen und auch Euch rate ich das zu tun. Heute haben wir einen Arbeitstag versäumt, morgen muss die Arbeit sehr frühzeitig beginnen. Ihr müsst einen Schlitten zur Fahrt ins Schloss verschaffen und um 6 Uhr hier vor dem Haus mit ihm bereitstehn.“ „Gut“, sagte der eine. Der andere aber fuhr dazwischen: „Du sagst: Gut, und weißt doch, dass es nicht möglich ist.“ „Ruhe“, sagte K., „Ihr wollt wohl anfangen, Euch voneinander zu unterscheiden.“ Doch nun sagte auch schon der erste: „Er hat recht, es ist unmöglich, ohne Erlaubnis darf kein Fremder ins Schloss.“ „Wo muss man um die Erlaubnis ansuchen?“ „Ich weiß nicht, vielleicht beim Kastellan.“ „Dann werden wir dort telefonisch ansuchen, telefoniert sofort an den Kastellan, beide.“ Sie liefen zum Apparat, erlangten die Verbindung – wie sie sich dort drängten! Im Äußerlichen waren sie lächerlich folgsam – und fragten, ob K. mit ihnen morgen ins Schloss kommen dürfe. Das „Nein“ der Antwort hörte K. bis zu seinem Tisch. Die Antwort war aber noch ausführlicher, sie lautete: „Weder morgen noch ein andermal.“ „Ich werde selbst telefonieren“, sagte K. und stand auf. Während K. und seine Gehilfen bisher, abgesehen von dem Zwischenfall des einen Bauern, wenig beachtet worden waren, erregte seine letzte Bemerkung allgemeine Aufmerksamkeit. Alle erhoben sich mit K., und trotzdem sie der Wirt zurückzudrängen suchte, gruppierten sie sich beim Apparat in engem Halbkreis um ihn. Es überwog unter ihnen die Meinung, dass K. gar keine Antwort bekommen werde. K. musste sie bitten, ruhig zu sein, er verlange nicht, ihre Meinungen zu hören.
Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telefonieren nie gehört hatte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen – aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen – wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber starke Stimme bildete, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte ohne zu telefonieren, den linken Arm hatte er auf das Telefonpult gestützt und horchte so.
Er wusste nicht wie lange – so lange, bis ihn der Wirt am Rock zupfte, ein Bote sei für ihn gekommen. „Weg“, schrie K. unbeherrscht, vielleicht in das Telefon hinein, denn nun meldete sich jemand. Es entwickelte sich folgendes Gespräch: „Hier Oswald, wer dort?“ rief eine strenge hochmütige Stimme, mit einem kleinen Sprachfehler, wie K. schien, den sie über sich selbst hinaus durch eine weitere Zugabe von Strenge auszugleichen versuchte. K. zögerte sich zu nennen, dem Telefon gegenüber war er wehrlos, der andere konnte ihn niederdonnern, die Hörmuschel weglegen und K. hatte sich einen vielleicht nicht unwichtigen Weg versperrt. K.s Zögern machte den Mann ungeduldig. „Wer dort?“ wiederholte er und fügte hinzu, „es wäre mir sehr lieb, wenn dortseits nicht so viel telefoniert würde, erst vor einem Augenblick ist telefoniert worden.“ K. ging auf diese Bemerkung nicht ein und meldete mit einem plötzlichen Entschluss: „Hier der Gehilfe des Herrn Landvermessers.“ „Welcher Gehilfe? Welcher Herr? Welcher Landvermesser?“ K. fiel das gestrige Telefongespräch ein. „Fragen Sie Fritz“, sagte er kurz. Es half, zu seinem eigenen Erstaunen. Aber mehr noch als darüber, dass es half, staunte er über die Einheitlichkeit des Dienstes dort. Die Antwort war: „Ich weiß schon. Der ewige Landvermesser. Ja, ja. Was weiter? Welcher Gehilfe?“ „Josef“, sagte K. Ein wenig störte ihn hinter seinem Rücken das Murmeln der Bauern, offenbar waren sie nicht damit einverstanden, dass er sich nicht richtig meldete. K. hatte aber keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, denn das Gespräch nahm ihn sehr in Anspruch. „Josef?“ fragte es zurück. „Die Gehilfen