Franz Kafka – Das Schloss. Franz Kafka
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„Gewiss“, sagte K., „wozu brauchtet Ihr Gäste. Aber hie und da braucht man doch einen, z. B. mich, den Landvermesser.“ „Das weiß ich nicht“, sagte der Mann langsam, „hat man Euch gerufen, so braucht man Euch wahrscheinlich, das ist wohl eine Ausnahme, wir aber, wir kleinen Leute, halten uns an die Regel, das könnt Ihr uns nicht verdenken.“ „Nein, nein“, sagte K., „ich habe Euch nur zu danken, Euch und allen hier.“ Und unerwartet für jedermann kehrte sich K. förmlich in einem Sprunge um und stand vor der Frau. Aus müden, blauen Augen blickte sie K. an, ein seidenes, durchsichtiges Kopftuch reichte ihr bis in die Mitte der Stirn hinab, der Säugling schlief an ihrer Brust. „Wer bist du?“ fragte K. wegwerfend, es war undeutlich, ob die Verächtlichkeit K. oder ihrer eigenen Antwort galt, sagte sie: „Ein Mädchen aus dem Schloss.“
Das alles hatte nur einen Augenblick gedauert, schon hatte K. rechts und links einen der Männer und wurde, als gäbe es kein anderes Verständigungsmittel, schweigend, aber mit aller Kraft zur Tür gezogen. Der Alte freute sich über irgendetwas dabei und klatschte in die Hände. Auch die Wäscherin lachte bei den plötzlich wie toll lärmenden Kindern.
K. aber stand bald auf der Gasse, die Männer beaufsichtigten ihn von der Schwelle aus. Es fiel wieder Schnee, trotzdem schien es ein wenig heller zu sein. Der Vollbärtige rief ungeduldig: „Wohin wollt Ihr gehn? Hier führt es zum Schloss, hier zum Dorf.“ Ihm antwortete K. nicht, aber zu dem andern, der ihm trotz seiner Verlegenheit der zugänglichere schien, sagte er: „Wer seid Ihr? Wem habe ich für den Aufenthalt zu danken?“ „Ich bin der Gerbermeister Lasemann“, war die Antwort, „zu danken habt Ihr aber niemandem.“ „Gut“, sagte K., „vielleicht werden wir noch zusammenkommen.“ „Ich glaube nicht“, sagte der Mann. In diesem Augenblick rief der Vollbärtige mit erhobener Hand: „Guten Tag, Artur, guten Tag, Jeremias!“ K. wandte sich um, es zeigten sich in diesem Dorf also doch noch Menschen auf der Gasse! Aus der Richtung vom Schlosse her kamen zwei junge Männer von mittlerer Größe, beide sehr schlank, in engen Kleidern, auch im Gesicht einander sehr ähnlich. Die Gesichtsfarbe war ein dunkles Braun, von dem ein Spitzbart in seiner besonderen Schwärze dennoch abstach. Sie gingen bei diesen Straßenverhältnissen erstaunlich schnell, warfen im Takt die schlanken Beine. „Was habt Ihr?“ rief der Vollbärtige. Man konnte sich nur rufend mit ihnen verständigen, so schnell gingen sie und hielten nicht ein. „Geschäfte“, riefen sie lachend zurück. „Wo?“ „Im Wirtshaus.“ „Dorthin gehe auch ich“, schrie K. auf einmal mehr als alle andern, er hatte großes Verlangen, von den zweien mitgenommen zu werden; ihre Bekanntschaft schien ihm zwar nicht sehr ergiebig, aber gute, aufmunternde Wegbegleiter waren sie offenbar. Sie hörten K.s Worte, nickten jedoch nur und waren schon vorüber.
K. stand noch immer im Schnee, hatte wenig Lust den Fuß aus dem Schnee zu heben, um ihn ein Stückchen weiter wieder in die Tiefe zu senken; der Gerbermeister und sein Genosse, zufrieden damit, K. endgültig hinausgeschafft zu haben, schoben sich langsam, immer nach K. zurückblickend, durch die nur wenig geöffnete Tür ins Haus und K. war mit dem ihn einhüllenden Schnee allein. „Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung“, fiel ihm ein, „wenn ich nur zufällig nicht absichtlich hier stünde.“
Da öffnete sich in der Hütte linker Hand ein winziges Fenster, geschlossen hatte es tiefblau ausgesehen, vielleicht im Widerschein des Schnees, und war so winzig, dass, als es jetzt geöffnet war, nicht das ganze Gesicht des Hinausschauenden zu sehen war, sondern nur die Augen, alte braune Augen. „Dort steht er“, hörte K. eine zittrige Frauenstimme sagen. „Es ist der Landvermesser“, sagte eine Männerstimme. Dann trat der Mann zum Fenster und fragte nicht unfreundlich, aber doch so, als sei ihm daran gelegen, dass auf der Straße vor seinem Haus alles in Ordnung sei: „Auf wen wartet Ihr?“ „Auf einen Schlitten, der mich mitnimmt“, sagte K. „Hier kommt kein Schlitten“, sagte der Mann, „hier ist kein Verkehr.“ „Es ist doch die Straße, die zum Schloss führt“, wendete K. ein. „Trotzdem, trotzdem“, sagte der Mann mit einer gewissen Unerbittlichkeit, „hier ist kein Verkehr.“ Dann schwiegen beide. Aber der Mann überlegte offenbar etwas, denn das Fenster, aus dem Rauch strömte, hielt er noch immer offen. „Ein schlechter Weg“, sagte K., um ihm nachzuhelfen. Er aber sagte nur: „Ja freilich.“ Nach einem Weilchen sagte er aber doch: „Wenn Ihr wollt, fahre ich Euch mit meinem Schlitten.“ „Tut das, bitte“, sagte K. erfreut, „wie viel verlangt Ihr dafür?“ „Nichts“, sagte der Mann. K. wunderte sich sehr. „Ihr seid doch der Landvermesser“, sagte der Mann erklärend, „und gehört zum Schloss. Wohin wollt Ihr denn fahren?“ „Ins Schloss“, sagte K. schnell. „Dann fahre ich nicht“, sagte der Mann sofort. „Ich gehöre doch zum Schloss“, sagte K., des Mannes eigene Worte wiederholend. „Mag sein“, sagte der Mann abweisend. „Dann fahrt mich also zum Wirtshaus“, sagte K. „Gut“, sagte der Mann, „ich komme gleich mit dem Schlitten.“ Das Ganze machte nicht den Eindruck besonderer Freundlichkeit, sondern eher den einer Art sehr eigensüchtigen, ängstlichen, fast pedantischen Bestrebens, K. von dem Platz vor dem Hause wegzuschaffen.
Das Hoftor öffnete sich und ein kleiner Schlitten für leichte Lasten, ganz flach, ohne irgendwelchen Sitz, von einem schwachen Pferdchen gezogen, kam hervor, dahinter der Mann, gebückt, schwach, hinkend, mit magerem, rotem, verschnupftem Gesicht, das besonders klein erschien durch einen fest um den Kopf gewickelten Wollschal. Der Mann war sichtlich krank, und nur um K. wegbefördern zu können, war er doch hervorgekommen. K. erwähnte etwas Derartiges, aber der Mann winkte ab. Nur dass er der Fuhrmann Gerstäcker war, erfuhr K. und dass er diesen unbequemen Schlitten genommen habe, weil er gerade bereit stand und das Hervorziehen eines anderen zu viel Zeit gebraucht hätte. „Setzt Euch“, sagte er und zeigte mit der Peitsche hinten auf den Schlitten. „Ich werde mich neben Euch setzen“, sagte K. „Ich werde gehn“, sagte Gerstäcker. „Warum denn?“ fragte K. „Ich werde gehn“, wiederholte Gerstäcker und bekam einen Hustenanfall, der ihn so schüttelte, dass er die Beine in den Schnee stemmen und mit den Händen den Schlittenrand halten musste. K. sagte nichts weiter, setzte sich hinten auf den Schlitten, der Husten beruhigte sich langsam und sie fuhren.
Das Schloss dort oben, merkwürdig dunkel schon, das K. heute noch zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder. Als sollte ihm aber doch noch zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben werden, erklang dort ein Glockenton, fröhlich beschwingt, eine Glocke, die wenigstens einen Augenblick lang das Herz erbeben ließ, so als drohe ihm, denn auch schmerzlich war der Klang, die Erfüllung dessen, wonach es sich unsicher sehnte. Aber bald verstummte diese große Glocke und wurde von einem schwachen, eintönigen Glöckchen abgelöst, vielleicht noch oben, vielleicht aber schon im Dorfe. Dieses Geklingel passte freilich besser zu der langsamen Fahrt und dem jämmerlichen, aber unerbittlichen Fuhrmann.
„Du“, rief K. plötzlich – sie waren schon in der Nähe der Kirche, der Weg ins Wirtshaus nicht mehr weit, K. durfte schon etwas wagen – „ich wundere mich sehr, dass du auf deine eigene Verantwortung mich herumzufahren wagst, darfst du denn das?“ Gerstäcker kümmerte sich nicht darum und schritt ruhig weiter neben dem Pferdchen. „He“, rief K., ballte etwas Schnee vom Schlitten zusammen und traf Gerstäcker damit voll ins Ohr. Nun blieb dieser stehen und drehte sich um; als ihn K. aber nun so nahe bei sich sah – der Schlitten hatte sich noch ein wenig weiter geschoben – diese gebückte, gewissermaßen misshandelte Gestalt, das rote müde schmale Gesicht mit irgendwie verschiedenen