Rabenkinder. Birgit Henriette Lutherer
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Selbstverständlich wurden alle Namen geändert.
Mir ist bewusst, dass sich ähnliche oder fast identische Geschichten auch in anderen Familien, als den hier beschrieben, zutragen. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich alleine schon aus der Häufigkeit der Vorkommnisse.
Falls sich die eine oder andere Parallele zu einer Geschichte ergeben sollte, ist diese rein zufällig und unbeabsichtigt.
Helga und Tobias
Helga erzählt mir, dass sie schon seit einigen Wochen immer mal wieder zum Telefonhörer gegriffen hat, um mich anzurufen. Bei jedem Versuch stiegen aber Zweifel in ihr hoch. Das schlechte Gewissen plagte sie. Sie fragte sich, ob es richtig sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bisher hatte sie sich stets bemüht, kein falsches Licht auf ihre Familie und besonders auf ihre beiden Kinder fallen zu lassen. Schließlich gilt es den guten Ruf der Familie und damit verbunden den ihres Geschäfts zu erhalten.
Helga ist Mitte fünfzig. Sie und ihr Mann Dieter haben zwei Kinder. Tochter Dörte, die ältere der beiden, ist seit zwei Jahren verheiratet und hat eine Tochter. Tobias, der jüngere Sohn, hat vor fünf Jahren geheiratet und hat zwei Töchter. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter vor etwa vier Jahren ab. Das war kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Helga kennt Tobias´ Kinder nicht. Er verwehrt seiner Mutter den Kontakt zu ihnen.
Nach meinem ersten Telefongespräch mit Helga resümiere ich, was sie mir berichtet hat. Im Rahmen meiner Arbeit zu diesem Buch sind mir so einige dramatische Familiengeschichten erzählt worden. Alle sind unterschiedlich, haben aber eine Gemeinsamkeit: Am Ende steht eine verlassene Mutter, die tief erschüttert ist. Jeder dieser Berichte berührt sehr.
Helgas Erlebnis erweitert die ohnehin schon schmerzbeladenen Geschichten, um weitere Aspekte. Zum einen ist da der Kontaktabbruch von ihrem Sohn. Zum anderen belastet es sie sehr, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen darf. Tobias verbiete ihr, wie erwähnt, den Kontakt zu sich und seinen Kindern. Für Helga ist das eine große Strafe. Sie empfindet es so, als würde das Leben nicht weitergehen.
Ich bin mit Helga verabredet. Sie hatte mich gebeten, dass wir uns in einer Großstadt treffen, dort, wo sie keiner kennen kann. Absolute Anonymität ist ihr sehr wichtig. Die erlittene Schmach sei zu groß, wie Helga mir am Telefon mitteilte. In ihrer gesellschaftlichen Stellung könne sie sich das nicht leisten. Sie befürchtet, wenn herauskäme, dass sie ihre „schmutzige Wäsche“ öffentlich wäscht, wäre sie gesellschaftlich ruiniert.
Als ich an unserem Treffpunkt ankomme, ist Helga bereits da und wartet auf mich. Sie hat für uns eine gemütliche Sofaecke ausgesucht, die sich in einer Nische am hinteren Ende eines Cafés befindet.
„Helga, am Telefon haben wir schon kurz darüber geredet, wie Ihre momentane Familiensituation aussieht. Können Sie bitte noch einmal zusammenfassen, was geschehen ist?“
„Nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, mein Sohn Tobias hat jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen. Ich darf meine Enkeltöchter nicht kennenlernen. Tobias hat mir verboten, es in irgendeiner Weise zu versuchen.“
Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa.
Ich habe den Eindruck, als wäre Helga innerlich erstarrt. Die Geschehnisse haben sie tief getroffen. Mir fällt auf, während sie mir in knappen Worten über ihre Situation berichtet, dass sie nervös an ihrer Bluse herumzupft. Sie ist um Fassung bemüht.
„Helga, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mir das so erzählen?“
„Fühlen? Wie soll ich mich fühlen? Traurig und verletzt natürlich. Aber ich versuche, meine Gefühle zu bekämpfen. Ich könnte es sonst nicht aushalten. Und außerdem darf ich Gefühle sonst auch nicht zeigen. Schon gar nicht negative. Dann reden die Leute erst recht und zerreißen sich den Mund. Wissen Sie, wenn man es bei uns im Ort zu etwas gebracht hat und eine gewisse Stellung innehat, dann darf man sich keine Gefühle leisten. Gefühle sind etwas für Loser, Gefühle zu zeigen wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.“
Helga echauffiert sich geradezu. Mir ist nicht ganz klar, ob es wegen meiner direkt gestellten Frage bezüglich ihrer Gefühle oder ob es vielmehr der Gedanke an ihr gesellschaftliches Umfeld ist. So oder so, für Helga ist es wohl besser, das Gespräch von diesem Thema wegzulenken. Ich möchte sie nicht unnötig in die Bredouille bringen.
„Sagen Sie, Helga, wie war Tobias als Kind?“
„Wie meinen Sie das? Wollen Sie wissen, ob Tobias Scherereien gemacht hat? Ob die Leute gesprochen haben?“
Helga schaut sich ängstlich um, als sie mich das fragt. Fast flüstert sie beim Sprechen. Sie scheint immer auf der Hut zu sein. Geradeso, als hätte sie etwas zu verbergen und Sorge, ertappt zu werden.
„Nein, Helga, ich denke da an grundlegende Dinge: War Tobias ein ruhiges, pflegeleichtes Kind? Oder war er vielleicht sehr lebhaft?“
„Ach so, Frau Lutherer, das meinen Sie.“
Helga beruhigt sich. Ihre zuvor deutlich spürbare Anspannung lässt merklich nach. Es ist, als hätte es Entwarnung für sie gegeben.
„Also, mein Tobias war ein ganz entzückendes Kind. Schon bei seiner Geburt war er so hübsch. Die Schwestern auf der Entbindungsstation sagten immerzu: ´Das ist ein Kind zum Klauen´. Sie waren ganz hin und weg. Alle, die ihn sahen, waren sofort ganz vernarrt in ihn. Er hatte diesen ganz besonderen Charme. Ich kann Ihnen das gar nicht so richtig in Worte fassen. Am besten zeige ich Ihnen ein Foto.“
Helga greift in ihre Handtasche und nimmt ihr Portemonnaie heraus. Sie klappt es auf und zeigt mir stolz eine Fotogalerie, die sich in der Innenseite befindet.
„Schauen Sie mal, das hier ist Dörte, unsere Erstgeborene. Und der hier, das ist mein Tobias. Ist der nicht süß?“
Helga strahlt über ihr ganzes Gesicht, als sie mir Tobias zeigt. Auf dem Foto ist ihr Sohn ungefähr drei Jahre alt - ein netter kleiner Kerl mit blonden Haaren, rosigen Pausbacken und freundlichem Lachen.
„Ja, Ihr Tobias ist ein hübsches Kind“, bestätige ich Helga.
„Nicht wahr? Er sieht aus wie ein kleiner Engel.“
„Benahm sich Tobias denn als Kind auch wie ein kleiner Engel?“
„Das kann ich leider nicht behaupten. Ich will damit nicht sagen, dass er böse war oder so. Es war nicht einfach mit ihm. Nichts war vor ihm sicher: Er musste alles untersuchen, anfassen oder auseinandernehmen. Dabei war er auch so tollpatschig. Er musste nur etwas anfassen und schon war es zu spät. Wenn Tobias etwas kaputt gemacht hatte, und ich mit ihm schimpfte, dann hat er mich angeguckt und gelacht. Sein Lachen war so süß, da konnte ich ihm nichts übelnehmen. Niemand konnte ihm da böse sein. Er war ja auch noch so klein.“
„Als Tobias dann etwas größer wurde, sagen wir mal so acht Jahre alt, ging er da mit den Dingen umsichtiger um?“
„Nun ja, Umsicht und Tobias – das sind zwei Worte, die nicht wirklich zueinander passen. In vielen Dingen ist er so grob und unvorsichtig und leider immer noch sehr tollpatschig. Das ist bis heute so.“
„Mir fällt da gerade noch eine Anekdote ein“, fährt