Rabenkinder. Birgit Henriette Lutherer

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Rabenkinder - Birgit Henriette Lutherer

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in ihr ist. Sie ist gekränkt und zutiefst verletzt.

      Nach einer Weile richtet sie sich auf, seufzt deutlich hörbar und sagt: „Vielleicht ist es wirklich besser so. Wer weiß, was noch geworden wäre, wenn er noch länger bei uns geblieben wäre. So haben Dieter und ich unser Leben zurück und ich brauche nicht mehr so sehr auf der Hut zu sein. Ich meine, es war schon sehr anstrengend gewesen, ständig Rechtfertigungen zu finden, wenn Tobias mal wieder nicht so war, wie unser Umfeld es gutheißt. Und außerdem habe ich ja noch Dörte und ihre Familie. Sie machen mir viel Freude. Wenn mein kleiner Sonnenschein zu Oma zu Besuch kommt, geht es mir gut. Meine kleine Enkeltochter Mia ist mein Ein und Alles. Manchmal, wenn ich sie so anschaue, entdecke ich auch ein bisschen von Tobias an ihr. Sie sieht auch so aus, wie ein kleines Engelchen mit rosa Pausbäckchen.“

      Helga lächelt sanft, als sie das sagt. Der Gedanke an Mia scheint ihr Ruhe zu geben und versöhnlich zu sein. Helga hat für sich einen Weg gefunden, mit dieser, für sie, unerträglichen Situation umzugehen.

      Abschließend möchte ich von Helga erfahren, ob sie heute in der Erziehung etwas anders machen würde.

      „Helga, wenn Sie noch einmal zurückblicken auf die Zeit als Tobias klein war, würden Sie in einigen Dingen anders verfahren? Würden Sie etwas anders machen wollen? Bereuen Sie vielleicht irgendetwas?“

      „Ach, wissen Sie, Frau Lutherer, darüber habe ich mir schon einige Male Gedanken gemacht. Ich glaube, ich würde es heute genauso machen. Ich bereue nichts. Ich habe mein Bestes gegeben. Tobias ist halt, wie er ist. Da kann man nichts machen.

      Eine sehr gute Freundin versuchte mich einmal zu trösten, als ich ziemlich frustriert war wegen Tobias. Sie sagte zu mir: ´Sieh es mal so, du hast alles getan. Er hat leider nichts von dir angenommen. In jeder Kiste Äpfel ist halt doch immer ein fauler Apfel dabei, so sagt man doch. Aber aus Tobias ist ja doch noch was geworden´. Als meine Freundin mir das sagte, war ich erst sauer über ihre freche, niederschmetternde Aussage. Doch leider muss ich meiner Freundin Recht geben. Also, um noch einmal auf ihre Frage zurückzukommen, Frau Lutherer: Ich würde nichts ändern und heute alles wieder so machen. Eigentlich müsste alles gut sein, wäre da nicht dieser nagende, furchtbare Schmerz in mir. Tobias hat mir mein Herz gebrochen. Es ist, als hätte er es herausgerissen. Daran wird sich wahrscheinlich nie etwas ändern. Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Das mag vielleicht stimmen. Aber diese verdammten Narben, die entstehen, schmerzen gewaltig.“

      Helga ist in ihrer Gefühlswelt hin- und hergerissen. Ihr Gefühlsleben fährt permanent Achterbahn. Haltlos versucht sie, die Kontrolle zu bewahren.

      Kann das, einer so sehr verletzten Mutter, auf Dauer gelingen?

      ADHS, ADS, HSS, ASS

       Helga beschreibt ihren Sohn Tobias als sehr lebhaftes Kind.

       Tobias gönnte sich, wie sie berichtet, keine Ruhephasen. Ständig war er als Kind in Aktion. Ohne Rast, ohne Ruhephasen verbrachte er von klein auf seinen Tag.

       Auch spricht sie davon, dass Tobias Lernschwierigkeiten in der Schule hatte. Er wurde positiv auf Legasthenie getestet.

       Erteilte Aufgaben erledigte er widerwillig mit Verzögerungstaktik oder er vergaß sie komplett.

       Tobias ältere Schwester Dörte hingegen ist da ganz anders. Sie ist in sich gekehrt, möchte keine Kontakte zu Mitschülern. Sie liest gerne und ist sehr sprachbegabt. Dörte braucht viel Ruhe und für alles sehr viel Zeit.

       Während meiner Gespräche mit Helga denke ich immer wieder über ADS und ADHS nach.

       ADS bezeichnet ein Aufmerksamkeitsdefizit bei Kindern.

       ADHS bezeichnet ein Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität.

       Der Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann beschrieb schon 1845 diese Verhaltensarten in seinem bekannten Buch „Der Struwwelpeter“.

       Dort ist es der Zappelphilipp, der nach heutiger Sichtweise von ADHS, also dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, betroffen ist. Tobias zeigt viele Symptome dieses Aufmerksamkeitsdefizits.

       Ich spreche darüber mit der Familientherapeutin Jasmin Schareina.

       Sie beschäftigt sich mit der Entwicklung und Lernförderung im Kinder- und Jugendalter.

       Ihrer Einschätzung nach zeigt Tobias deutliche Merkmale von ADHS: Er hat Lernschwierigkeiten, war unaufmerksam und störte permanent den Unterricht. Motorische Unruhe und Impulsivität ließen ihn zur Belastung werden für die Familie und das soziale Umfeld.

       Ich frage die erfahrene Lerntherapeutin, ob Tobias von ADHS betroffen ist oder doch eher zu den hochsensiblen Personen gehören könnte. Sie verneint letzteres sofort. Ihre Begründung ist plausibel. Hochsensible Kinder können über ihr Verhalten reflektieren. Sie ziehen Schlüsse aus ihrem Handeln und sehen die Konsequenzen. Kinder mit ADHS hingegen können dies nicht. Wenn überhaupt möglich, ist die Einsicht dieser Kinder von extrem kurzer Dauer. Auch wenn sie im Moment etwas verstanden haben, haben sie es bald wieder vergessen. Spätestens, wenn ihnen irgendetwas Neues, Interessantes begegnet, ist das der Fall.

       Schareina geht sogar davon aus, dass Tobias zusätzlich, zur ohnehin schon belastenden Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, den High-Sensation-Seekers zugeordnet werden kann. Sein gefährliches Experiment mit der Steckdose in seinem Kinderzimmer und sein Spaziergang auf dem Hausdach deuten darauf hin. Sie sind für sie deutliche Anzeichen hierfür.

       Der High-Sensation-Seeker (HSS) ist ständig auf der Suche nach neuen Erfahrungen, interessanten Entdeckungen und dem nächsten „Kick“, erklärt die Therapeutin. Die Betroffenen, erläutert Schareina weiter, suchen immerzu die Herausforderung und die Gefahr.

       Tobias zeigt dieses Verhalten sehr deutlich - besonders in seiner Kinder- und Jugendzeit.

       Während des Gesprächs, kommt mir Tobias´ Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen in den Sinn.

       Ich gehe das Gespräch mit Helga gedanklich noch mal durch. Besonders Tobias´ Verhalten macht mich stutzig. Ich vermisse dort die Empathie. Erst jetzt fällt mir auf, dass ihn andere Menschen und besonders ihre emotionalen Reaktionen nicht zu kümmern scheinen. Bei allen Geschehnissen, von denen Helga mir berichtete, scheint Tobias ausschließlich ich bezogen zu agieren.

       Theoretisch ist da nicht auszuschließen, dass hier eine besondere Form einer autistischen Störung vorliegen könnte. Diese Möglichkeit zieht auch die Familientherapeutin Jasmin Schareina in Betracht.

       Hier ließe sich eventuell ein Erklärungsansatz für Tobias´ Abbruch des Kontakts finden.

       Tobias hat unter Umständen einfach kein Gefühl für Situationen, in denen Gefühle mitspielen.

       Menschen mit autistischer Störung fehlt eben diese Fähigkeit, Emotionen anderer Menschen wahrzunehmen und entsprechend einzuordnen. Sie haben zwar Gefühle, aber

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