Rabenkinder. Birgit Henriette Lutherer
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Allerdings zeigt Tobias keine weiteren prägnanten Merkmale, die auf eine autistische Störung schließen ließen. Mangelnde Empathie alleine reicht da nicht aus, um diese Hypothese zu untermauern.
Ich erinnere mich an einen Bericht über eine spezielle Form von Autismus, die zurzeit noch erforscht wird. Diese spezielle Form wird als Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet. Tony Attwood, klinischer Psychologe und Dozent an der Griffith University in Queensland beschäftigt sich seit 1975 intensiv mit diesem Thema.
Betroffenen merkt man diese Störung kaum an. Viele Menschen wissen sogar selbst nichts davon. Sie spüren oftmals lediglich, dass mit ihnen im sozialen Kontext etwas nicht stimmt. Betroffene empfinden sich oftmals als „irgendwie anders“.
Attwood fand heraus, dass sich Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Interaktion mit anderen Menschen schwerer tun als andere. Seiner Ansicht nach sind Betroffene eher auf Sachen oder Details konzentriert als auf Menschen. Es fiele ihnen zum Beispiel schwer, Zwischentöne in der Kommunikation zu hören. Sie nähmen Dinge zu wörtlich und können Zwischentöne nicht interpretieren. Auch verhielten sie sich anders, als man es gewohnt sei.
Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung verstoßen gegen viele Erwartungen und Vorstellungen, die üblich sind. Sie haben ein begrenztes Interesse an ihren Mitmenschen und zwischenmenschlicher Kommunikation.
Alexandra und Melanie 1/3
Zum Bruch kam es auch zwischen Alexandra und Melanie.
Alexandra ist ratlos, als sie mich aufsucht. Bei unserem ersten telefonischen Kontakt erzählte sie mir, dass sie ein Problem mit ihrer Nichte Melanie habe. Alexandra war schon seit einigen Wochen auf der Suche nach geeigneter Beratung. Als sie mich anrief, sollte ich ihr letzter Versuch sein.
Eine Woche nach unserem ersten Telefonkontakt kommt sie zum vereinbarten Termin zu mir.
„Alexandra, Sie hatten mir am Telefon kurz geschildert, dass Sie ein Problem mit ihrer Nichte Melanie haben. Sie sagten, Melanie habe den Kontakt zu Ihnen abgebrochen?“
„Ja, leider. Ich bin sehr enttäuscht.“
Ihre Unterlippe zittert, als sie mir das erzählt. Ihre Gefühle scheinen sie gerade zu übermannen.
„Alexandra, ich spüre ihre Verbitterung darüber. Möchten Sie mir erzählen, was geschehen ist?“
„Es ist schwer. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber jetzt bin ich hier und will´s versuchen.“
Alexandra spricht so leise, dass ich mich anstrengen muss, ihre Worte zu verstehen. Sie sitzt mir gegenüber und schaut mit leerem Blick den Blumenstrauß an, der auf meinem Tisch neben unseren gefüllten Wassergläsern steht.
„Wie nah ist Ihnen Melanie? Haben Sie eine enge Beziehung?“, versuche ich das Gespräch zu starten.
Mir scheint die Verbindung zwischen Alexandra und Melanie ungewöhnlich nah zu sein. Ich weiß, dass Tante und Nichte sich oftmals sehr gut verstehen, sie häufig einen engen freundschaftlichen Kontakt pflegen. Ich spüre aber, dass hier, bei Alexandra und Melanie, mehr ist. Ihre Beziehung kommt mir sehr viel tiefer vor.
Alexandra nimmt einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Sie sammelt sich und beginnt zu erzählen:
„Sie müssen wissen, Melanie ist das Kind meiner Schwester Silke. Aber ich habe sie großgezogen. Bevor Silke mit Melanie schwanger wurde, führte sie, ich nenne es mal freundlich wohlwollend, ein unstetes Leben. Leider geriet sie an die falschen Freunde. Sie kamen zum Teil auch aus der Drogenszene. Es dauerte nicht lange und Silke probierte ihre ersten Drogen aus. Nach kurzer Zeit war Silke drogenabhängig. Ich glaube, meine Schwester hat damals so ziemlich alles genommen, was es gab. Mit dreiundzwanzig Jahren wurde sie dann schwanger. Sie wollte das Kind unbedingt haben und schwor, keine Drogen mehr zu nehmen. Das gelang ihr aber leider nicht. Silke konsumierte zwar deutlich weniger als zuvor, dafür kompensierte sie ihren Konsum mit Zigaretten. Für meine Schwester zählten diese nicht als Droge. So war es für sie auch keine große Sache, auch während der Schwangerschaft, am Tag bis zu drei Päckchen Zigaretten zu rauchen. Noch während der Schwangerschaft wurde Silke stationär in eine Klinik für Suchtkranke eingewiesen, weil sie schizoide Episoden durchlebte.“
Alexandra atmet erleichtert auf, nachdem sie mir das erzählt hat. Es ist, als wäre ihr etwas Schweres abgenommen worden.
„Ich kann mir vorstellen, es ist Ihnen nicht leichtgefallen, das zu erzählen, Alexandra.“
„Das stimmt. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Wissen Sie, die Leute glauben immer, wenn jemand in seiner Familie einen Süchtigen hat, dann ist gleich die ganze Familie asozial. Sie sind dann sofort mit einem Makel behaftet. Und dass erst recht jetzt, wo Melanie sich von mir abgewendet hat. Aber das stimmt nicht. Meine Eltern sind ehrbare Menschen und ich lebe ein geregeltes normales Leben. In meinem Beruf habe ich es schon weit gebracht.“
Alexandra verteidigt sich vehement gegen diese ungerechte Sichtweise.
„Ja, Alexandra, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Die Menschen neigen dazu, vorschnell zu urteilen. Ich kann Ihre Besorgnis verstehen, über das Leben Ihrer Schwester und über Melanies Kontaktabbruch zu Ihnen zu reden. Da ist es ganz natürlich, dass Sie vorsichtig sind.“
Alexandra hebt ihren Kopf und schaut mich mit entschlossenem Blick an: „Wissen Sie was? Sie sind der erste Mensch, von dem ich den Eindruck habe, wirklich offen über diese Sache reden zu können. Sonst habe ich immer das unbestimmte Gefühl, dass mein Gegenüber die Nase rümpft, wenn ich von Silke erzähle.“
„Gut, Alexandra. Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir auf einer soliden Vertrauensbasis miteinander reden können.“
„Danke, dass Sie mir das noch einmal so deutlich versichern. Da bin ich beruhigt. Ich möchte gerne über meine Situation reden, darüber wie schlecht ich mich fühle. Und so ganz nebenbei gesagt, möchte ich Sie auch bei Ihrer Recherche zum Thema ´Verlassene Mütter´ unterstützen. Ich kann mir denken, dass es noch mehr Frauen gibt, denen es so ergeht wie mir. Wenn ich mir dann vorstelle, dass sie sich so fühlen, wie ich mich fühle und sie sich auch in ihrem Schmerz so alleingelassen fühlen wie ich, dann hoffe ich, helfen zu können.“
„Verlassene stehen am Pranger“
Tatsächlich ist es so, dass es häufig vorkommt, dass ein Kind sich von der Mutter abwendet. Wie eingangs erwähnt, leiden die verlassenen Mütter sehr unter der Situation. Meistens wissen sie gar nicht, warum sie verlassen wurden. Sie stellen Vermutungen an, verwerfen sie wieder, suchen die Schuld bei sich, drehen sich mit ihren Gedanken immer wieder im Kreis. Das Karussell im Kopf ist in Dauerbetrieb. Zu allem Überfluss stehen sie am Pranger. Familie, Freunde und alle möglichen Bekannten denken nicht selten insgeheim: „Na, das hätte ich gleich sagen können. Sie hätte besser …“, oder: „Ein Klapps hätte nicht geschadet“.
Nicht selten wird es den Verlassenen auch unverhohlen vorgeworfen. Das erhöht natürlich den Leidensdruck. Hinzu kommt dann neben der Erklärungsnot auch noch die Scham versagt zu haben.