Rabenkinder. Birgit Henriette Lutherer

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Rabenkinder - Birgit Henriette Lutherer

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bewaffnet, ging er in sein Kinderzimmer und begann die Wand damit zu bearbeiten. Von dem Radau aufgeschreckt, schaute ich natürlich sofort nach, was los ist. Da entdeckte ich Tobias in seinem Zimmer. Er kniete neben der Zimmertüre vor einer Steckdose. Tobias war gerade im Begriff mit Meißel und Hammer die Steckdose aus der Wand herauszubrechen. Ich war Gott sei Dank rechtzeitig da und konnte ihn noch davon abhalten. Natürlich stellte ich ihn, nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, sofort zur Rede. Er lächelte mich nur an und erklärte mir dann mit der größten Selbstverständlichkeit, dass er nur mal gucken wollte, wie eine Steckdose in der Wand aussieht und wo die Kabel sind.“

      „Helga, Tobias hatte zu diesem Zeitpunkt ein Alter, in dem Kinder doch schon ganz gut empfänglich sind für Hinweise auf Gefahren. Ich nehme an, Sie haben mit ihm über alle möglichen Gefahren gesprochen.“

      „Ja, natürlich. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, als würde ich gegen eine Wand reden. Tobias nickte zwar immer zustimmend, als ob er verstanden hätte, was ich ihm gesagt habe. Doch es kam häufig vor, dass er kurze Zeit später wieder irgendeinen gefährlichen Blödsinn verzapfte. Es war geradezu so, als hätte er alles wieder vergessen, was ich ihm gesagt habe.“

      „Sie meinen, Sie erreichten Tobias nicht mit Ihren Worten? Oder gab es keine Einsicht?“

      „Auf eine Art glaube ich schon, dass er verstand, was ich von ihm wollte. Manchmal kam es mir vor, als ob er mir zuhörte, aber gleichzeitig irgendwie schon wieder mit einer anderen, neuen Sache beschäftigt war.“

      „Gab es in Tobias´ Tagesverlauf auch mal Ruhephasen in denen er sich erholen konnte? Hielt er zum Beispiel Mittagsschlaf?“

      „Nein. Tobias war den ganzen Tag aktiv. Nachdem ich ihn vom Kindergarten abholte, aß er sein Mittagessen und war im Anschluss sofort wieder beschäftigt. Mittags schlafen wollte er nie. Seine Lieblingsbeschäftigung am Nachmittag war es, den großen Sandkasten vom Spielplatz umzugraben. Daran hatte er die größte Freude. Das machte er stundenlang. Glücklicherweise befand sich der Spielplatz direkt vor unserer Wohnung. So konnte ich vom Küchenfenster aus immer mal nach Tobias schauen.“

      „Dann konnten Sie Tobias mit gutem Gewissen draußen spielen lassen. Spielte Tobias mit anderen Kindern?“

      „Ja, gewiss. Er liebt es im Mittelpunkt zu stehen oder einfach nur mittendrin zu sein.“

      „Helga, Sie sagen, dass Tobias immer in Aktion war. Wie kam er in der Schule zurecht? Dort musste er ja plötzlich stillsitzen.“

      „Die Schule ist so ein Kapitel für sich. Natürlich hatte Tobias Schwierigkeiten still zu sitzen und dem Unterricht zu folgen. Jede Woche wurde ich von seiner Lehrerin zum Gespräch gebeten. Es gelang ihr nicht, Tobias zur Ruhe zu bringen. Sie hatte schon einiges ausprobiert, aber nichts half. Frau K. stellte Regeln in der Klasse auf für das Verhalten der Kinder im Unterricht. Alle hielten sich an diese Regeln. Nur mein Tobias nicht. Er war nicht zu bändigen. Ständig stand er mitten im Unterricht auf und rannte herum. Er störte seine Mitschüler beim Lernen, indem er sie ärgerte. Fast täglich bekam Tobias Strafarbeiten auf oder musste nachsitzen.“

      „Wie schlug sich das in den Schulnoten nieder?“, möchte ich von Helga erfahren.

      „Fragen Sie besser nicht. Die Noten waren eine Katastrophe. Rechnen, Sachkunde und Sport waren noch ganz in Ordnung. Schreiben und Lesen hingegen waren eine Qual für Tobias. Es wollte ihm nicht gelingen. Wir alle waren verzweifelt. Nach einiger Zeit schlug seine Lehrerin vor, Tobias auf Legasthenie testen zu lassen. Der Test fiel, wie zu erwarten war, positiv aus. Tobias wurde als hochgradiger Legastheniker erkannt. Von da an bekam er eine spezielle Förderung. So konnte Tobias zumindest die Schulzeit mit einem ganz passablen Hauptschulabschluss beenden.“

      „Ich kann mir vorstellen, Helga, dass es eine sehr anstrengende Zeit für Sie gewesen sein muss.“

      „Das stimmt. Nonstop war ich mit Tobias beschäftigt. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen Dörte gegenüber. Meine Große musste immer zurückstecken. Tobias hat all meine Kraft und meine ständige Aufmerksamkeit gebraucht. Ich habe alles gegeben. Und jetzt das! Wieso bestraft mich Tobias so sehr? Ich verstehe es nicht. Ich bin verzweifelt. Zwischendurch habe ich sogar darüber nachgedacht, mein Leben zu beenden, weil ich diesen Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Doch dann dachte ich an Dörte, mein Enkelkind und an Dieter. So etwas könnte ich ihnen nicht antun. Ich liebe sie zu sehr. Ich möchte nicht, dass sie wie ich diese Höllenqualen erleiden müssen.“

      „Tobias hat sozusagen Ihre volle Aufmerksamkeit gefordert?“

      „So ist es. Ich bin froh, dass unsere Dörte ein so ruhiges Kind war. Sie war sehr genügsam. Wenn die Kleine ein Buch in den Fingern hatte, war sie glücklich. Dörte hatte selten das Bedürfnis, nach draußen zu gehen. Sie wollte auch keine Kontakte zu anderen Kindern haben. In der Schule kam sie ganz gut zurecht, verbrachte die Pausenzeit aber immer alleine. Während andere Kinder auf dem Pausenhof herumtobten und spielten, saß sie auf einem Mäuerchen mit einem Buch in der Hand und las. Sie war froh, wenn ihre Mitschüler sie in Ruhe ließen. Wenn ich so zurückblicke, brauchte Dörte überhaupt viel Ruhe. Auch brauchte sie für alles sehr viel Zeit. Bis heute macht sie alles mit Bedacht.“

      „Helga, wenn Sie auf die Zeit zurückblicken als Ihre Kinder klein waren, würden Sie sagen, dass Dörte und Tobias auch in ihrer Entwicklung unterschiedlich waren?“

      „Auf jeden Fall! Unsere Dörte ist, wie ich bereits erwähnte, ruhig und in allem eher langsam. Als Kind brauchte sie viel Schlaf. Bis zum Ende der Grundschulzeit hielt sie noch regelmäßig Mittagsschlaf. Sie begann auch, erst weit nach ihrem zweiten Geburtstag zu laufen. Trocken werden dauerte bei ihr auch sehr lange. Mit neun Jahren kam es immer noch vor, dass Dörte vor allem nachts einnässte. Tobias hingegen ist ganz anders. Er wollte nie schlafen. Er brauchte immer Action. Mit dreizehn Monaten konnte Tobias schon laufen. Wenn ich es so recht bedenke, hat Tobias seine große Schwester dazu animiert, auch mit dem Laufen zu beginnen.

      Tobias kletterte auf alles hinauf. Ich erinnere mich, wie er eine Gelegenheit nutzte, um auf das Dach unseres dreistöckigen Wohnhauses zu steigen. Handwerker verrichteten einige Reparaturarbeiten an der Dachrinne. Sie hatten eine lange Leiter aufgestellt, die bis zum Dach hinauf reichte. Während einer Arbeitspause der Männer, kletterte Tobias von allen unbemerkt die Leiter hinauf und von da aus über das Dach des Hauses bis hin zum Schornstein. Dort angelangt, balancierte er über den Dachfirst hin und her. Weil keiner von Tobias´ Kletteraktion etwas mitbekommen hatte, er aber Aufmerksamkeit wollte, rief er von oben herunter: ´Fangt mich doch, wenn ihr mich kriegt´. Da erst bemerkten die Männer ihn. Sie riefen mich nach draußen. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich wusste, ich durfte jetzt nicht in Panik geraten. Ich sprach so ruhig, wie es mir in diesem Moment nur möglich war mit ihm, während einer der Handwerker aufs Dach stieg, um ihn sicher herunterzuholen. Das war gar nicht so einfach, denn Tobias spielte tatsächlich Fangen mit seinem Retter. Nur unsere größte Überredungskunst konnte ihn dazu bringen, mit seinem Retter wieder zu uns herunterzukommen. Zum Glück blieben alle unversehrt bei dieser Aktion.“

      „Wie alt war Tobias zu dem Zeitpunkt, Helga?“

      „Er war noch nicht in der Schule. Also muss er ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein.“

      „Hat Dörte von der Kletterpartie ihres kleinen Bruders etwas mitbekommen?“

      „Nein, Dörte schlief. Sie hielt ihren Mittagsschlaf, wie immer um diese Zeit.“

      „Hielt Tobias Sie häufiger derart auf Trab, Helga?“

      „Ja, leider. Immer wieder vollführte Tobias solch gefährliche Aktionen. Meistens gingen sie glimpflich aus. Wie durch

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