Final Game. Valuta Tomas
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Dort ist sie. Dort ist Neve. Regungslos wie in den letzten Wochen gewohnt, aber nur noch mit einer Atemmaske ausgestattet, anstatt mit einem widerlichen Tubus.
Sam will den ersten Schritt auf das Bett zumachen, wird aber verbal von dem Arzt aufgehalten. Eigentlich würde sie ihm ganz gerne den einen oder anderen Knochen brechen, damit er sie zu ihrer Frau lässt, aber sie beherrscht sich. Besonnen lauscht sie seinen Worten.
»Es wird noch ein paar Tage dauern, bis Ihre Frau wieder zu vollem Bewusstsein kommen wird.« Ein kurzer Blick zu Neve folgt.
»Wir werden nach und nach die Narkosemittel reduzieren. So kann sich der Körper Ihrer Frau daran gewöhnen wieder die Kontrolle über sämtliche Funktionen eigenständig zu übernehmen. Die Aufwachphase wird ein schwerer und anstrengender Prozess für den Körper, wenn er sich für mehrere Wochen im Koma befand. Während dieser Zeit kann es sein, dass Ihre Frau Wahnvorstellungen hat, desorientiert ist oder Schlaf- und Kreislaufprobleme bekommt. Für viele Angehörige ist es aber auch schwer zu verarbeiten, dass einige Patienten ihre Ehepartner oder Familienangehörige nicht wiedererkennen. In dieser Zeit sollten Sie Nerven beweisen und darauf vertrauen, dass Ihre Frau nach und nach wieder zu sich kommen wird. Es kann etwas dauern und für alle belastend sein.«
»Alles ist besser, als diese Ungewissheit der vergangenen Wochen«, haucht Sam benommen und lässt den Arzt rücksichtslos stehen, um an das Bett heranzutreten. Vorsichtig greift sie nach Neves Hand und hört Jessica noch mit dem Arzt reden. Dieser verlässt kurz darauf das Zimmer.
Als Jessica ebenfalls an das Bett tritt, sieht sie dabei zu, wie Sam sich über Neve beugt und ihr vorsichtig einen Kuss auf die Stirn haucht. Mit Tränen in den Augen und einem Freudetaumel der Gefühle, blickt Sam in das Gesicht ihrer Frau. Sie ist so erleichtert, dass Neve diesen erneuten und schweren Eingriff überstanden hat. Das was dann noch auf alle Beteiligten zukommen wird, ist nicht annähernd so grauenvoll und Kräftezerrend wie die vergangenen Wochen.
Jessica dreht sich um und schaut auf einen der Monitore die Neves Herzschlag und Puls anzeigen.
»Das sieht gut aus. Das Herz scheint stark zu sein«, murmelt sie ziellos in den Raum hinein.
»Ein anderes Herz hat Neve auch gar nicht verdient«, schmunzelt Sam. Sie umgreift Neves Hand mit beiden Händen, kniet sich neben das Bett und haucht mehrere Küsse auf die Hand ihrer Frau.
»Das Schlimmste hast du überstanden«, flüstert sie und blickt zuversichtlich in Neves Gesicht.
»Ich werde es Laura sagen. Wirst du es Neve sagen, oder soll ich das machen?« Diese Frage von Jessica erreicht Sam wie eine Abrissbirne. Sie zuckt. Erschrocken schaut sie zu ihrer Freundin hinüber. Sie kann die Unsicherheit und Verlegenheit von Jessica spüren und weiß, dass es für beide kein leichter Weg werden wird. Aber das sind sie ihren Frauen schuldig.
Sam schluckt, als sie den Kopf senkt und Neves Hand gegen ihre Stirn presst.
»Ich werde es ihr sagen sobald sie voll und ganz bei Bewusstsein ist und versteht was ich getan habe. Du wirst mit Laura genug zu tun haben. Sie wird uns beide umbringen. Zuerst dich und dann mich.«
»Ja, das wird sie.« Sam kann Jessica schlucken hören.
»Ich werde aber noch warten bis wieder etwas Alltag eingekehrt ist, damit wir uns alle von den vergangenen Monaten erholen können. Du wirst es also spätestens dann wissen, dass ich es ihr gesagt habe, wenn Laura ausholt und dich windelweich prügelt.«
»Ich habe auch nichts anderes verdient«, murmelt Sam in Neves Hand und küsst diese ein weiteres Mal.
Round 17
Seit sechszehn Jahren verliert Sam nicht eine Träne.
Seit sechszehn Jahren hat Sam nicht einmal um ihre Frau geweint.
Seit sechszehn Jahren hängt alles in Sams Umgebung am seidenen Faden.
Seit sechszehn Jahren hofft Sam sich erlösen zu dürfen.
Seit sechszehn Jahren wartet Neves geladene Waffe darauf, eingesetzt zu werden.
Seit sechszehn Jahren wartet Sam darauf, dass Jean volljährig ist, nur um ihrer Frau zu folgen.
Seit sechszehn Jahren geht Sam jährlich diesen Weg.
Seit sechszehn Jahren verdrängt sie jeglichen Gedanken an ihre Frau, nur um einmal im Jahr in das tiefste und schwärzeste Loch zu fallen, welches ihre Seele hergibt.
Sam hat Neve versprochen, dass sie sich um die Kinder kümmern wird, sollte sie diesen Weg nicht mehr mit ihr zusammen gehen können. Auch wenn es gegen Sams Natur war, hielt sie ihr Versprechen. Bis heute bereut sie jeden Tag, an dem sie morgens die Augen öffnet. Jeden Tag wünscht sie sich, dass sie am Abend zuvor einschläft und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufwacht. So wie Neve … .
Am Abend der Transplantation berichtete Sam Precious ganz stolz von der geglückten OP und versprach ihr, sie am nächsten Tag mit ins Krankenhaus zu nehmen. Die Maus durfte zu ihrer Mutter. Sie durfte Hoffnung haben, dass Neve die Augen öffnete und sie ansah.
Das klingelnde Telefon in der Nacht hatte aber einen anderen Plan. Nur schwer konnte Sam in ihrem verschlafenen Zustand etwas verstehen. Sie hörte Laura im Hintergrund heulen und brüllen. Alleine das zu hören zerfetzte Sams Herz. Als sie Jessicas weinende Stimme aber vernahm, wusste sie, dass ihre Freundin keine guten Nachrichten für sie hatte.
»Ihr Körper hat das Herz abgestoßen. Sie ist kollabiert. Ich habe sie gehen lassen.« Das war das Letzte was Sam von Jessica gehört hat. Lauras weinen und schreien war das Letzte was sie von ihrer besten Freundin gehört hat. Von Matt und Jill hat sie danach nie wieder etwas gehört.
In dieser Nacht verlor Sam nicht eine Träne.
In dieser Nacht packte Sam nur das Nötigste für die Kinder und sich ein, schnappte sich die Mädchen und fuhr weg. Sie fuhr, ohne ein Ziel zu haben. Sie fuhr und hielt nur alle paar hundert Meilen, um sich um die Kinder zu kümmern. Sie fuhr Tagelang, bis sie Precious nicht mehr anlügen konnte. Die kleine Maus fragte wovor sie wegfahren würden. Instinktiv wusste sie, dass Sam floh. Nur wovor wusste sie nicht.
Ohne auch nur eine Träne zu verlieren, erzählte Sam ihrer Tochter schweren Herzens was geschehen ist. Dass Precious‘ Mutter nicht mehr lebt. Dass die OP doch nicht so gut verlaufen ist, wie alle annahmen.
Precious sah Sam mit großen Augen geschockt an. Auch sie verlor keine Träne. Stattdessen ging sie auf Toilette. Sam wusste, dass die kleine Maus ihre Zeit brauchte. Dass sie Ruhe für sich brauchte. Sie hatte keine Ahnung, als sie Precious im Diner hinterher blickte, dass es das Letzte war, was Sam von ihr sah. Vor sechszehn Jahren stahl sich Precious heimlich von Sam weg und ließ sie mit Jean alleine. Sam suchte Tagelang und bat auch die Polizei um Hilfe. Als diese aber nach einigen Tagen mit einem Schuh von Precious zurückkehrte, der an einem Highway gefunden wurde, wusste Sam, dass sie nun auch dieses letzte Stück von Neve verloren hatte. Also fuhr sie weiter. Sie fuhr mit Jean so weit, bis das Land aufhörte. Sie fuhr so weit, bis sie die südlichste Stadt der Welt erreichte. Puerto Williams. Eine chilenische Stadt mit nicht einmal zweitausenddreihundert Einwohnern. Einer Stadt, die nur teilweise feste Straßen besaß. Eine Stadt, die einheimischer nicht sein konnte. Sam lernte spanisch und zog ihre Tochter mit dieser Sprache auf.
Bis