Das Geheimnis der alten Mamsell. Eugenie Marlitt

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Das Geheimnis der alten Mamsell - Eugenie Marlitt

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da mußte das Kind hin und mußte es besuchen.

      Felicitas bog ein in eine zweite Gasse, die noch steiler den Berg hinauflief, als die drunten neben dem Hause. Dann kam das häßliche Stadtthor mit dem noch viel häßlicheren Turme, der auf seinem Rücken dräute, aber durch die Thorwölbung leuchtete es grün. Da schlangen sich die prächtigen, wohlgepflegten Lindenalleen in wunderlichem Kontraste um alte, geschwärzte Stadtmauern, wie ein frischer Myrtenkranz um einen ergrauten Scheitel ... Wie war es so feierlich still hier oben! Das Kind erschrak vor seinen eigenen Schritten, unter denen der Kies knirschte – es ging ja auf verbotenem Wege. Aber es lief immer rascher und stand endlich, tief Atem schöpfend, vor dem Eingangsthore des Gottesackers.

      Noch nie hatte Felicitas diesen stillen Ort betreten – sie kannte jene kleinen, gleichförmig nebeneinander liegenden Felder noch nicht, jene Schlußsteine, unter denen das vielgestaltige Leben urplötzlich verbraust und verklingt. Neben dem schwarzen Eisengitter der Thür streckten zwei große Holunderbüsche die Zweige hervor, gebeugt von der Last ihrer schwarzen, glänzenden Beerendolden, und da seitwärts erhob sich das graue Gemäuer einer alten Kirche – das sah düster aus: aber dort hinüber dehnte sich ein weiter Plan, bunt besät mit Blumen und Büschen, auf denen das Gold der milden Herbstsonne lag.

      »Wenn willst du denn besuchen, Kleine?« fragte ein Mann, der in Hemdärmeln an der Thür des Leichenhauses lehnte und blaue Wolken aus seiner Tabakspfeife in die klare Luft blies.

      »Meine Mama,« entgegnete Felicitas hastig und ließ ihre Augen suchend über das große Blumenfeld gleiten.

      »So – ist die schon hier? – Wer war sie denn?«

      »Sie war eine Spielersfrau.«

      »Ah, die vor fünf Jahren auf dem Rathause umgekommen ist? ... Die liegt da drüben, gleich neben der Kirchenecke.«

      Da stand nun das kleine, verlassene Wesen vor dem Fleckchen Erde, das den Gegenstand all seiner süßen, sehnsüchtigen Kindesträume deckte! ... Ringsum lagen geschmückte Gräber; die meisten waren mit buntfarbigen Astern so völlig bedeckt, als habe der liebe Gott alle seine Sterne vom Himmel schneien lassen. Nur der schmale Streifen zu des Kindes Füßen zeigte dürres, verbranntes Gras, gemischt mit üppig wuchernden Queckenranken. Unachtsame Füße hatten bereits einen Weg darüber gebahnt; die anfangs lockere, von Regengüssen durchwühlte Erde war tief eingesunken, und mit ihr der weiße, schmucklose Stein zu Füßen des vernachlässigten Grabes – »Meta d'Orlowska« stand in großen, schwarzen Lettern dicht am Erdrande ... An diesem Steine kauerte sich Felicitas nieder, und ihre kleinen Hände wühlten in eienr von Gras entblößten Stelle ... Erde, nichts als Erde! Diese schwere, fühllose Masse lag auf dem zärtlichen Gesichte, auf der lieben Gestalt im lichtglänzenden Atlasgewande, auf den Blumen in den lilienweißen, erstarrten Händen. Jetzt wußte das Kind, daß die Mutter damals nicht bloß geschlafen habe.

      »Liebe Mama,« flüsterte sie, »du kannst mich nicht sehen, aber ich bin da, bei dir! Und wenn auch der liebe Gott nichts von dir wissen will – er hat dir ja nicht ein einziges Blümchen geschenkt – und kein Mensch kümmert sich um dich, ich hab' dich lieb und will immer zu dir kommen! ... Ich will auch nur dich allein lieb haben, nicht einmal den lieben Gott, denn er ist so streng und schlimm gegen dich!«

      Das war das erste Gebet des Kindes am Grabe der verfemten Mutter ... Ein leichtes Lüftchen strich vorüber, weich und kühlend, wie sich die beschwichtigende Mutterhand um die klopfenden Schläfe des fieberkranken Lieblings legt. Die Astern nickten herüber zu dem tieftraurigen Kinde, und auch durch die dürren Blütenrispen der Gräser zog es leise flüsternd; und droben dehnte sich der Himmel in durchsichtiger Klarheit – der ewige, wandellose Himmel, den Menschenbegriffe zu einem Tummelplatze irdischer Leidenschaften machen.

      Als Felicitas später in das düstere Haus am Marktplatze zurückkehrte – das Kind wußte nicht, wie lange es träumend da draußen auf dem weiten, stillen Totenfelde gesessen hatte – fand sie die Hausthür nur angelehnt. Sie schlüpfte hinein, blieb aber sofort erschrocken in der nächsten Ecke stehen, denn die Thür zu des Onkels Zimmer stand ziemlich weit offen, Johannes' Stimme klang heraus, und Felicitas hörte, wie er mit festen, langsamen Schritten auf und ab ging.

      Ein so eigentümlich wilder Trotz auch seit gestern über die Kleine gekommen war, die Furcht vor jener unbewegten, grausam kalten Stimme und den unerbittlichen, grauen Augen war doch noch größer. Sie konnte unmöglich in das Bereich der halboffenen Thür treten – ihre kleinen Füße standen wie eingewurzelt auf den Steinplatten.

      »Ich gebe dir vollkommen recht, Mama,« sagte Johannes drinnen, indem er stehen blieb; »das kleine, lästige Geschöpf wäre am besten in irgend einer braven Handwerkerfamilie aufgehoben. Aber dieser unvollendete Brief hier ist für mich so maßgebend, wie ein rechtskräftiges Testament ... Einmal sagt der Papa, daß er das Kind um keinen Preis aus dem Schutze seines Hauses entlassen werden – es sei denn, daß es der Vater selbst zurückfordere – und hier mit den Worten: ›- ich würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in deine Hände legen –‹ macht er mich unwiderleglich zum Vollstrecker seines Willens ... Es kommt mir durchaus nicht zu, an der Handlungsweise meines Vaters irgendwie zu mäkeln, aber wenn er gewußt hätte, wie unsagbar zuwider mir die Menschenklasse ist, aus der das Kind stammt – er würde mich mit dieser Vormundschaft verschont haben.«

      »Du weißt nicht, was du von mir verlangst, Johannes!« entgegnete die Witwe im Tone tiefsten Verdrusses. »Fünf lange Jahre habe ich diesen Auswürfling, dies gottverlassene Wesen stillschweigend neben mir dulden müssen – ich kann es nicht länger!«

      »Nun, dann bleibt uns kein anderer Ausweg, als ein Aufruf an den Vater des Kindes.«

      »Ja, da kannst du rufen!« erwiderte Frau Hellwig mit einem kurzen, höhnischen Auflachen. »Der dankt Gott, daß er den Brotesser los ist! Doktor Böhm sagt mir, soviel er wisse, habe der Mann zu Anfang ein einziges Mal von Hamburg aus geschrieben – seit der Zeit nicht wieder.«

      »Als gute Christin wirst du übrigens auch nicht zugeben, liebe Mama, daß das Kind dahin zurückkehrt, wo seine Seele verloren geht –«

      »Sie ist so wie so verloren!«

      »Nein, Mama! Wenn ich auch nicht leugnen will, daß der Leichtsinn in diesem Blute stecken muß, so glaube ich doch auch fest an den Segen einer guten Erziehung.«

      »Du meinst also, wir bezahlen das schwere Geld noch so und so viel Jahre länger für ein Geschöpf, das uns auf der Gotteswelt nichts angeht? – Sie hat Unterricht im Französischen, im Zeichnen –«

      »Ei behüte, das fällt mir nicht ein!« unterbrach Johannes die Aufzählung – zum erstenmal erhielt diese monotone Stimme eine etwas lebhaftere Klangfarbe. »Das fällt mir nicht ein,« wiederholte er. »Mir ist diese moderne weibliche Erziehung ohnehin ein Greuel ... Solche Frauen wie dich, die, echt christlichen Sinnes und in wahrhafter Weiblichkeit, nie die ihnen gesteckten Grenzen überschreiten, die wird man in kurzem suchen müssen ... Nein, das alles hat von jetzt ab ein Ende! Erziehe das Mädchen häuslich, zu dem, was einst seine Bestimmung sein wird – zur Dienstbarkeit ... Ich lege die Angelegenheit völlig und unbesorgt in deine Hände. Mit deinem starken Willen, deinem Christentum –«

      Hier wurde die Thür plötzlich weiter aufgerissen, und Nathanael, der sich bei dem Zwiegespräche langweilen mochte, sprang heraus. Felicitas drückte sich gegen die Wand; aber er sah sie doch und stürzte wie ein Stoßvogel auf die Zitternde zu.

      »Ja, verstecke dich nur, das hilft dir nichts!« rief er und preßte ihr zartes Handgelenk beim Weiterzerren so heftig, daß sie aufschrie. »Jetzt kommst du mit und sagst der Mama gleich den Text der Predigt! Gelt, das kannst du nicht? Du warst nicht auf den Schulbänkchen, ich hab'

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