Bambis Kinder. Felix Salten
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Читать онлайн книгу Bambis Kinder - Felix Salten страница 6
Der redete zu ihnen: »Nehmt euch nur in acht, meine Verehrten, daß euch nichts Böses geschieht. Auch ihr gehört zu den Guten, zu den Edlen, zu den Unschuldigen und gerade die werden immer verfolgt. Am meisten hütet euch vor dem grausamen Fuchs.« Der Hase war ergriffen. »Ihr dürft nicht beleidigt sein, weil ich euch warne. Ich sehe euch heute zum erstenmal.«
»Gehst du nie auf die Wiese?« mengte sich Faline ein.
»Du merkst«, entgegnete der Hase, »ich sitze hier ganz nah am Saum der Dickung. Ein Ruck und ich verschwinde. Mit der Wiese ist es vorbei. Ich traue mich nicht mehr hinauszugehen.«
»Deshalb habe ich dich so lange nicht getroffen.«
»Ach«, klagte der Hase, »wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe!«
Plötzlich schlug er die Löffel hoch, richtete sich steil auf, daß die kurzen Vorderbeine in der Luft tasteten und sein weißwolliger Bauch sichtbar wurde. »Hörst du nichts?« Er witterte leidenschaftlich, seine Schnurrhaare bebten heftig.
Faline warf das Haupt empor, breitete die Lauscher, zog prüfend den Atem ein: »Alles ist ruhig. Alles. Du bist gar zu ängstlich, Freund Hase.«
Geno hatte gleich der Mutter gelauscht und geschnuppert, denn er war erschrocken. Jetzt meinte er schüchtern: »Man kann nie zu ängstlich sein.«
»Klug gesprochen, mein junger Prinz, sehr klug«, stimmte der Hase zu. »Ich will dir erzählen, Faline, was mir passiert ist. Etwas Furchtbares! Mich hat der Fuchs überfallen! Wirklich, man weiß schon gar nicht mehr, wo man sitzen, wo man essen soll, nah am Rand des Gebüsches oder mitten in der Wiese. Du kennst mich, du weißt, wie vorsichtig ich bin; jedenfalls war ich nur zwei Hopser von der Dickung entfernt. Da, auf einmal stürzt der Räuber hervor, genau an der Stelle, wo ich herausgegangen war. Er ist sicherlich meiner Fährte gefolgt.«
»Wäre es nicht besser gewesen, weiter in die Wiese zu gehen?« fragte Faline.
»Das habe ich früher immer getan«, erklärte ihr der Hase, »und auch damit habe ich schlimme Erfahrungen gemacht. Einmal, es war schon fast hell, bin ich beinahe der großen Eule in die Fänge geraten, in die mörderischen Krallen. Drei Kinder hat sie mir vor meinen Augen weggeschnappt, drei reizende kleine Kinder. Dann wieder kam mir der spitznasige Schleicher ganz nahe, ohne daß ich ihn hörte. Himmel, bin ich gerannt, vor der Eule und vor dem Fuchs! Ich sage ja, man weiß nie, wo man sitzen und einen Bissen in Ruhe essen kann.«
Er richtete sich wieder mit hochgeschlagenen Löffeln kerzengerade auf, horchte und schnupperte.
»Keine Gefahr!« beschwichtigte Faline, nachdem sie und Geno gleichfalls geschnuppert hatten.
»Erzähle weiter«, bat Gurri voll Gespanntheit.
»Also, wie ich nahe an der Dickung saß, stürzt der rote Halunke hervor«, berichtete Freund Hase, »stürzt hervor mit gefletschten Zähnen. Ich sehe den grimmigen Rachen, die gierigen Augen; sein übler Geruch weht mich an, und zuerst faßt mich lähmendes Entsetzen. Aber ich mache ganz von selbst ein paar ratlose Sprünge in die Wiese. Er mir nach, dicht hinter mir. Ich halte mich für verloren und beginne zu laufen. Er immer hinter mir drein. Jetzt schlage ich scharf einen Haken; er rennt geradeaus, und ich gewinne endlich einen kleinen Vorsprung. Doch das nützt mir wenig. Er hetzt mich, hetzt mich, daß mir der Atem ausgeht und der Schädel hämmert. Drei Haken habe ich vollführt, bis ich das Dickicht erreichte. Mir schwirrt es vor den Augen. Renne, was du kannst, denke ich, es geht um dein Leben! Doch ich fühle, daß ich nicht mehr viel weiter kann. Dort in den Hartriegelbüschen drüben kenne ich eine Grube. Drauflos ohne Haken! Ich lasse mich hinunterfallen, liege erschöpft da, mit rasendem Herzklopfen, habe noch sein Keuchen im Gehör; ich zittere und erwarte mein Ende. Um nichts wäre ich imstande gewesen, mich zu regen. Mir ist alles gleichgültig, mag er kommen, sage ich zu mir. Doch er kommt nicht! Er kommt nicht! Langsam fasse ich das Glück, er kommt nicht! Wehrlos bin ich, und er ist stark; aber ich bin schneller als er, und ich habe ihn müde gemacht! Heute noch, wenn ich mich daran erinnere, schüttelt mich das Grauen.«
Der Hase schwieg, die Löffel eng an den Rücken geschmiegt.
»Deine Geschichte werde ich nie vergessen«, versicherte Geno erschüttert, um dann die Mutter zu drängen: »Komm endlich schlafen.«
Faline nahm Abschied: »Gesundes Wiedersehen, Freund Hase.«
»Ein Wunsch für uns alle«, erwiderte der trübselig.
Gurri blieb eine Sekunde zurück, beugte sich nieder, küßte die Stirne des Hasen und flüsterte: »Ich danke dir für deine Erzählung.«
Sie sprang davon.
»Möge dich der Fuchs nie erwischen, kleine Prinzessin«, rief ihr der Hase nach.
Mutter und Kinder begaben sich zur Ruhe.
Allein heute sollte noch mehr, sollte Wichtiges geschehen.
Etliche Stunden später war es. Die Sonne sandte schon heiße Strahlen durch das Laubgitter der Wipfel; die Blätter, die Kräuter, die reifenden Früchte dufteten unter der Sonnenglut; der harzige Geruch des warmen Holzes strömte scharf und kräftigend durch den Wald. Es schwatzten die Meisen, der Pirol schwang sein Jauchzen von Baum zu Baum, der Specht hämmerte und lachte gellend, die Elstern schakerten, der Häher kreischte, Finken, Rotkehlchen, Zeisige sangen ihre Lieder, dazwischen rief der Kuckuck, gurrten die Tauben.
Da wurde Faline mit eins hell wach, erhob sich und weckte die Kinder.
»Auf, Geno! Gurri, auf!«
»Was soll's?« Erschrocken stand Geno gleich auf seinen Läufen, fluchtbereit.
»Keine Gefahr!« herrschte Faline ihn an. »Der Vater ist da!«
»Der Vater!« rief Gurri; sie war noch ganz schlaftrunken, doch es riß sie empor.
Nun riefen beide sehnsüchtig: »Vater! Vater!«
»Wo bist du, Vater?« sagte Gurri zärtlich.
Und Geno fügte hinzu: »Wir sehen dich ja nicht ...«
»Still!« befahl die Mutter, »ihr dürft den Vater nicht anreden! Ihr müßt warten, ob er zu euch spricht! Seid nur bescheiden und schön geduldig ...!«
Sie wendete sich dorthin, wo das Gebüsch am undurchdringlichsten war: »Zum Gruß, Bambi!«
Eine tiefe Stimme antwortete: »Faline, zum Gruß!«
»Die Kinder wünschen sich's so sehr, daß du dich ihnen zeigst.«
»Wenn sie können, werden sie mich sehen.«
Vom Blattwerk verhängt, undeutlich war Bambis Haupt erschienen; stolze, ernste Züge, große, dunkel leuchtende Augen und eine mächtige Krone, die braun geperlt mit langen, hellen Zacken sein Haupt zierte.
Es dauerte eine Weile, bis Geno ganz leise sprach: »Ich sehe dich, Vater ...«
»Wo? Wo?« drängte Gurri, »ich finde dich nicht, Vater.«
Die tiefe Stimme klang: »Suche und schaue.« Dann redete sie weiter: »Sind die Kinder, wie sie sein sollen?«
Faline gab Bescheid: »Gut sind sie und brav.