Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten. Ingrid Kaltenegger
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Alle sind bei den Eltern oder den Kindern, wie Frau Neher, die im zweiten Stock wohnt und immer sagt, dass sie der Lärm nicht stört.
Stille. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Prost.
Seit Nico weg ist, höre ich fast überhaupt keine Musik mehr. Auf dem Handy, wenn überhaupt. Schon über ein Jahr.
Das Schlimmste war sein Glück. Er hat versucht, es sich nicht anmerken zu lassen. Ein schuldbewusstes Gesicht gemacht, aber gepfiffen. Wie er das CD-Regal ausgeräumt hat. Gepfiffen vor Glück und weit mehr mitgenommen, als ihm gehört hat. Egal, die Zauberflöte mit Lucia Popp als Königin gibt’s auf Youtube auch.
Ich könnte ihn anrufen. Wo ich das Handy schon in der Hand hab, mein ich. Ja, nein, die Therapeutin wär nicht dafür.
Wir haben Weihnachten gefeiert, wir zwei Waisenkinder – legendär. Bei Carmen und Nico biegt sich der Tisch. Wer am Heiligen Abend bei uns war, hat gewusst, dass er für den 25. besser keine Termine annimmt. Wenn ich fürs Weihnachtsoratorium gebucht war – in der ersten Hälfte sind ja nur wenige Sopranpassagen –, hab ich oft noch spontan Kollegen mit nach Hause gebracht. Nico hat am 24. immer schon pausiert. Das hat er sich geleistet, obwohl er Blechbläser ist. Blechbläser + Weihnachtszeit = Goldgrube. Er hat den ganzen Tag gekocht: koscher, halal, vegan, egal. Jedes Mal hab ich gedacht, es wär viel zu viel, aber irgendwann, gegen Morgen, war alles weg. Und immer hat’s geschneit.
Ha, natürlich nicht, aber einmal haben wir eine Schneeballschlacht gemacht. Dabei ist Nico ausgerutscht und hat sich den kleinen Finger gebrochen. »Für jeden anderen Musiker eine Katastrophe«, hat er verkündet, »nur nicht für den Posaunisten!« Er hat ein paar Ibuprofen mit Obstler hinuntergespült und weitergefeiert bis zum Morgen.
Wir waren uns einig. Erst die Karriere, dann ein Kind. Beide. Und als es so weit war, die Nudeln und der Hoferwein abgelöst wurden von gebeiztem Lachs und dem Morillon, da waren meine Pap-Werte so schlecht, dass mir die Frauenärztin riet, mich am besten von meiner Gebärmutter zu verabschieden. Verkürzt ausgedrückt. Das muss ungefähr die Zeit gewesen sein, in der Nico mit Elsa Bekanntschaft machte. Und mit ihrer Gebärmutter.
»Carmen! Was gibt’s?«
Ich hab nicht damit gerechnet, dass er rangeht. Man kann hören, wie mein Herz an meinen Kehlkopf schlägt, als ich »Hallo, Nico« sage. Im Hintergrund kräht etwas. Das muss das Kind sein. Ich ziehe die Mundwinkel nach oben. Auch ein gezwungenes Lächeln hilft gegen einen bitteren Tonfall. »Ich wollte nur schnell frohe Weihnachten wünschen, bevor die Gäste kommen.« Seit Tagen denke ich darüber nach, wen ich eingeladen haben könnte: Andrea, Sybille und Claudio. Zu denen hat er keinen Kontakt. Umsonst, er würgt mich ab, freundlich. »Die Gans.«
Freundlich abgewürgt ist auch tot. Die Gans könnte ein Lied davon singen.
Ich geh in die Knie. Leg mich auf den Boden. Platz ist genug, seit er den Flügel abholen lassen hat. Meine Finger streichen über die Abdrücke der Rollen im Teppich, wo sich die Fasern einfach nicht mehr aufrichten wollen. Elsa. Kind. Gans. Kirche. Natürlich, schon wegen der Schwiegereltern, unwesentlich älter als er. Die singen dort im Chor. Das gönn ich ihm.
Meine Therapeutin rät zu radikaler Akzeptanz. Es sei nun einmal alles nicht zu ändern, und ich müsste doch jetzt langsam sehen, wie ich zu meiner alten Stärke zurückgelange. Sie hat ja recht. Aber mir geht’s da wie dem Teppich.
Während ich mich mit dem Gedanken anfreunde, hier liegen zu bleiben, für immer, höre ich, dass die Studenten über mir doch nicht verreist sind. Ebenso wenig sind sie auf wundersame Weise plötzlich rücksichtsvoll geworden. Wieso auch? Sie sind Teil dieser Welt, und die hat sich zur Aufgabe gemacht, mir zu zeigen, wie wenig Wert sie auf mein Dasein legt.
Aber noch bleibt mir Badezusatz in Pralinenform. Noch bleiben mir die Wirkstoffe der Meeresalgen, die die Tiefe meiner Falten in fünf Wochen um dreißig Prozent reduzieren. Noch bleibt mir ein Gin Tonic am Badewannenrand, der in weit kürzerer Zeit das Gegenteil schafft. Noch bleiben mir Lucia Popp, mein Handy und sieben Prozent Akkuleistung.
Wenn ich das Handy auf ein Handtuch lege, während es am Strom hängt, kann eigentlich nichts passieren. Und nein, ich bin nicht selbstmordgefährdet, jedenfalls nicht, solange ich Lucia Popp höre und nicht EMD.
»Tod und Verzweiflung«, singt die Königin der Nacht. Eines der Törtchen verbreitet Zimt-Lavendelaroma im Badewasser. Ich höre nicht, aber ich sehe, wie es von Bässen erschüttert wird, wie die Lavendelschiffe auf dem Weg um meine Knie- und Buseninseln in Seenot geraten. An der Decke brauen sich dunkle Wolken zusammen. Ist das ein Wasserschaden? War der schon immer? Ich glaube nein. Sieht dramatisch aus. Es müsste einiges getan werden, in der Wohnung. Aber wie, bitte, ohne Leiter?
Was veranstalten die da über mir? In immer schneller werdendem Rhythmus rutschen der Gin Tonic auf der einen Seite und auf der anderen das Handy dem Abgrund entgegen. Ich rette das Handy. Die Therapeutin würde das als einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnen. Ein Drink, der ins Badewasser fällt, ist lang nicht so schlimm wie ein Handy am Stromkabel. Ärgern tut’s mich trotzdem.
»Hört!«, schmettere ich mit Lucia Popp, »hört, Rachegötter!« Im Bad war schon immer die beste Akustik. Oben zeigen sie sich unbeeindruckt.
Es rumpelt und stampft unverändert weiter. Das geht zu weit. Ich war auch jung und rücksichtslos, aber so jung und rücksichtslos war ich nie. Ich wische mir also Meeresalgen im Wert von ungefähr sechzig Euro aus dem Gesicht – Wirkung gleich null –, schlüpfe in den Bademantel und stapfe ein Stockwerk höher.
Ich klingle. Es zieht im Hausflur. Meine Haare tropfen auf den Terrazzoboden. Mir egal. Ich war schon immer weniger erkältungsanfällig als andere Sängerinnen. Ich klingle, bis jemand die Tür aufmacht.
Ein Mädchen. Auf den zweiten Blick: junge Frau. Eine von denen, die nach dem Ausweis gefragt werden, wenn sie Alkohol kaufen, bis sie dreißig sind.
»Was?«, formulieren ihre Lippen. Hören kann ich sie nicht in dem Lärm, aber sie hat eine ausdrucksstarke Gestik, muss man ihr lassen. Ich schau sie finster an. Was glaubt sie wohl, was?
Sie verschwindet, die Tür lässt sie weit offen, dreht die Lautstärke etwas zurück. Der Flur ist derselbe wie meiner, eigentlich. Nur sind die Wände hier altrosa gestrichen und in fünf Metern Höhe verströmt ein Kristalllüster eine Atmosphäre wie frisch gebackener Kuchen. Es müsste umgekehrt sein. Hier die Funzel im staubigen Lampion und unten bei mir das einladende Kristall.
»Komm ruhig herein«, sagt die Mädchenfrau mit einer Stimme, wie nur Italienerinnen sie haben. Für drei Wörter verschwendet sie eine ganze Tonleiter und knarzt zwischendurch wie eine alte Tür. So weit kommt’s noch, denke ich. Und merke, dass ich schon in ihrem Flur stehe. Vor der Statue eines gelben Elefanten, der Flöte spielt.
»Das ist Ganesha. Ich bin Francesca.«
Francesca sieht mich mit grünen Augen an und schiebt die viel zu langen Ärmel ihres Pullovers hoch, die sofort wieder über ihre kleinen Hände fallen. Bezaubernd, aber nicht mich.
»Ich verstehe, dass ihr feiern wollt, Francesca«, sage ich streng, »aber das ist zu laut. Ich erwarte Freunde.« Hab ich das nötig, sie anzulügen? Wenigstens findet meine imaginäre Gästeliste noch Verwendung: »Andrea, Sybille und Claudio.«
»Ich bin alleine«, klärt Francesca mich auf. Und dann: »Jemand schreit immer im Haus.«