Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten. Ingrid Kaltenegger
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»Ja. Sehr laut und hoch«, sagt Francesa.
Ich ahne, was sie meinen könnte. Oder wen.
Und drehe mich zum Gehen.
Aber dann überlege ich es mir anders.
»Das ist nicht Schreien«, sage ich und singe ihr ein dreigestrichenes D entgegen. Nicht schlecht, so aus dem Stand. Die Akustik ist im Stiegenhaus noch besser als im Bad.
»Schreien klingt anders«, und dann schreie ich in ihr verdutztes Gesicht: »Aaaaahhh!«
Das hätte ich längst tun sollen. Mehr schreien. Mit dem Besenstiel an die Decke pumpern, wenn oben die Bässe stampfen, und »Ruuuheee!« schreien. Den Eltern in der Musikschule über den Gang entgegenschreien: »Nein! Edgar kriegt kein Solo!« Und Nico durchs Telefon anschreien: »Bring die Leiter zurück, du Lulu!«, anstatt hauszuhalten mit meiner Wut, sie zu schonen wie meine Stimme, damit sie mir nicht etwa verloren geht.
Einen göttlichen Moment nach dem anderen lasse ich ins Badewasser plumpsen. Das Glas, das auf den Boden gesunken ist, fische ich heraus und mixe mir einen neuen Drink. Die Gurkenscheibe schwimmt vorbei. Ich lege sie mir aufs rechte Auge. Das Haus vibriert immer noch leicht von der Musik der kleinen Italienerin, aber ich höre jetzt auf dem Handy die Callas Platinum Collection und singe lauthals mit. Jetzt könnte man, geb ich zu, es durchaus als Schreien bezeichnen. Aufgrund der Kopfhörer leidet die Intonation, dazukommt der Zorn. Ich schreie den Schmerz der Weltgeschichte aus mir heraus, die Norma, die Mimi, die Butterfly und ja, die Carmen. So werde ich diese Heilige Nacht verbringen, schreiend in der Wanne, in regelmäßigen Abständen heißes Wasser zulaufen lassen, ab und zu das Gurkenauge wechseln und morgen früh heiser sein oder untergegangen.
Es klingelt.
Diese jungen Dinger haben wirklich Nerven. Oben rattern die Beats, aber soweit ich das durch die Kopfhörer beurteilen kann, hört das Klingeln nicht auf.
Ein zweites Mal werfe ich mich in den Bademantel – der ist komplett durchnässt – und öffne die Tür.
Francescas Augen funkeln mich an. »Ich habe leiser gemacht, Sie müssen auch leiser machen.«
Sein wäre richtiger, denke ich, gehe aber großzügig darüber hinweg, weil ich ihr ansehe, wie viel Überwindung sie das gekostet hat. Sie hat gewartet, bis es nicht mehr ging.
»Es ist Weihnachten!« Sie hat Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen.
Eine ungewohnte Milde überschwemmt mich. Ich möchte ihr etwas schenken. Das ist der Geist der Weihnacht. Oder der Gin. Ich rausche ins Wohnzimmer, greife mir das erstbeste Paket und schwenke im Zurückkommen den Panettone am Bändchen.
»Buon Natale«, wünsche ich und werte es als Kompliment für meine Aussprache, dass sie automatisch »Grazie altretanto« antwortet.
Sind das Tränen in ihren Augen? Hervorgerufen vom Anblick einer Kuchenschachtel? Was macht dieses Mädchen bloß zu Weihnachten ganz allein in einer fremden Stadt? Denn auf den dritten Blick ist sie eben doch ein Mädchen. Zwanzig, höchstens. Hat ihre katholische Familie sie verstoßen, weil sie zum Hinduismus übergetreten ist? Jetzt wäre ein guter Moment, sie hereinzubitten und das herauszufinden.
Ich lasse den Moment verstreichen, sehe zu, wie Francesca, ohne die Augen vom Panettone zu lösen, in den ersten Stock hinaufsteigt. Wenn sie der Anblick des Aranzini-Ziegels schon zu Tränen rührt, nicht auszudenken, was erst die Oliven in ihr auslösen würden. Oder die eingelegten Champignons.
Ich könnte mir ein paar davon herrichten und mitnehmen in die Wanne.
Ich gehe im Wohnzimmer die verbliebenen CDs durch. Irgendetwas wird Nico ja dagelassen haben, etwas Stilles, Besinnliches. Im Haus gegenüber zündet eine Frau die Kerzen am Baum an. Ich seh ihr zu, seh sie lächeln über die Freude, die sie ihrer Familie macht, die sie dafür noch mehr lieben wird als ohnehin schon, das ganze nächste Jahr.
Und in dieses friedliche, lediglich von einer winzigen Prise Neid getrübte Bild bricht ein Rumms, aber ein so gewaltiger, wie ich ihn im Leben noch nicht gehört habe. Begleitet von einer Erschütterung, die mich, die Möbel und die geknickten Teppichfasern für einen Moment vom Boden abheben und schweben lassen. Flaschen fallen um, Bücher aus dem Regal. Ich kann gar nicht sagen, wo der Lärm herkommt, bis ich den Staub sehe, der aus dem Bad über den Flur ins Wohnzimmer rollt.
In meiner Badewanne liegt eine Waschmaschine.
Daneben schwimmen Fliesen, Scherben, Dielen, Schutt und eine einsame Gurkenscheibe. An der Decke, wo vorhin das Wolkengebilde zu sehen war, ist der Himmel jetzt aufgerissen. Aus dem ersten Stock stürzt Wasser herunter, das den Staub dämpft und in Schlamm verwandelt, bevor es weniger wird und schließlich nur noch tröpfelt.
»Francesca!«, rufe ich.
Oben rührt sich nichts.
»Francesca?«
Ich lauf aus der Wohnung, ein paar Stufen hinauf. Frau Neher, die Nachbarin aus dem zweiten Stock, kommt mir entgegen. »Da ist keiner«, sagt sie, »die sind weggefahren. Zu den Eltern.«
»Ja, Frau Neher, haben Sie den Lärm nicht gehört?«
Sie nickt mir zu und geht mit ihrer Tasche voller Friedhofskerzen an mir vorbei. Mir schießt ein Gedanke ein, der hebt mir kurz den Magen aus: Warum bin ich Francesca vor heute Abend noch nie im Stiegenhaus begegnet? Frau Neher hört schlecht, aber kann einer überhören, dass das Haus fast zusammenstürzt? Bin etwa ich die Verrückte in dieser Geschichte? Welche Zwanzigjährige sitzt denn bitte am Heiligen Abend zu Hause und wäscht?
Ich muss zurück in meine Wohnung und herausfinden, ob ich spinne oder nicht, dringend. Es erleichtert mich irgendwie, als ich sehe, dass wenigstens die Waschmaschine noch da, das Bad immer noch verwüstet ist. Und jetzt? Ich muss etwas Trockenes anziehen. Den Vermieter anrufen. Die Feuerwehr. Nur, mein Handy liegt irgendwo in diesem betörend duftenden Inferno.
»Besser, du sagst Claudio, Andrea und Sybille ab«, rät mir eine Stimme von oben.
In der Lücke, eingerahmt von gesplittertem Holz und Putz, schaut Francesca mit großen grünen Augen zu mir herunter. Dann geht im ganzen Haus das Licht aus.
»Weg da, das ist gefährlich!«, schreie ich, schriller als ich möchte. Weil ich Angst um sie hab. Wenn Francesca nicht bloß aus einem italienischen Phantasiejenseits erschienen ist, um mich vor einem ebenso lächerlichen wie grausamen Tod zu bewahren, ist die Gefahr noch nicht gebannt. Lebendige Menschen können abstürzen, sich verletzen oder wer weiß was. Hierbleiben können wir jedenfalls nicht.
Im Schein von Francescas Handy finde ich alles, was ich brauche: meine Kleider, meine Einkaufstaschen und sogar ein Hotel. Nur ein paar Häuser die Straße hinunter. Ich schwöre, dass ich es zum ersten Mal im Leben sehe. Der Portier ist auch überrascht, als wir auftauchen. Ich kann’s ihm nicht verdenken. Francesca sieht aus, als sei sie in der Wäsche eingelaufen. Über ihrem Oversize-Pullover trägt sie einen Mantel und Stiefel von mir. Meine nassen Haare sind mit Bauschutt paniert, aber der Geruch, den wir verbreiten – göttlich. Zimt, Lavendel, Bitterorange und ein Hauch Meeresalge. Vielleicht leiht uns der Portier deshalb seinen LED-Adventskranz. Mit Flackereffekt.
Francesca und ich teilen uns ein Zimmer. Wir teilen uns die Antipasti,