Lipstick Traces. Greil Marcus
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DIE FRAGE
ist zu groß, um sofort in Angriff genommen zu werden … man muss sie beiseitelegen, sich selbst überlassen, damit sie zu ihrer eigenen Form findet. Was bleibt, ist Musik; hört man sich heute die Platten der Sex Pistols an, kommt es einem nicht wie ein Fehler vor, ihren Moment mit einem bedeutenden historischen Ereignis zu verwechseln. Hört man sich heute »Anarchy in the U.K.« und »Bodies« an, Elvis Costellos This Year’s Model, »Complete Control« von den Clash, »Boredom« von den Buzzcocks, »Oh Bondage Up Yours!« und Germfree Adolescents der X-Ray Spex, »Wake Up« von Essential Logic und »Fairytale in the Supermarket« der Raincoats, Chairs Missing von Wire und »Never Been in a Riot« von den Mekons, »An Ideal for Living« und Unknown Pleasures der Joy Division, »Once Upon a Time in a Living Room« von den Slits, »At Home He’s a Tourist« und »Return the Gift« der Gang of Four, »Kerb Crawler« der Au Pairs, »Ü« von Kleenex sowie (nachdem der Papiertaschentuchhersteller Kimberley-Clark die Band zu einer Namensänderung zwang) »Split« und »Eisiger Wind« von Liliput an, außerdem von den Adverts Crossing the Red Sea with the Adverts (auf dem Cover verschmierte Farbe, um die Fotocollage eines Wohnsilos sowie eine weiße Reklametafel mit dem Text »Land of Milk and Honey« in Behördenschrift: der Sound, von Anfang an chiliastisch, würde den Hörer zweifellos ins Gelobte Land oder vierzig Jahre lang in die Wildnis führen)… wenn man sich das heute anhört, und vor allem The Roxy London WC 2 (Jan–Apr 77), ein zusammengeschustertes Livealbum, auf dem man hinter Tischgesprächen und splitterndem Glas diverse Gruppen öffentlicher Stimmen vernimmt, die nicht einmal in den Köpfen ihrer Erfinder existierten, bevor Johnny Rotten sich einen Antichrist nannte … höre ich mir dieses relativ kleine Œuvre an, das heute in Cut-out-Kisten, auf Sonderangebotstische, Sammlerbörsen oder Flohmärkte verbannt ist, empfinde ich so etwas wie Hochachtung angesichts der Qualität dieser Musik, davor, wie gut sie die Zeit überdauert hat.
Was an dieser Musik überdauert, ist ihr Wunsch, die Welt zu verändern. Es ist ein offenkundiger und schlichter Wunsch, doch hinter ihm steht eine unendlich komplexe Story … so komplex wie das Zusammenspiel alltäglicher Gesten, die einem sagen, wie die Welt funktioniert. Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven. Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ. Es tat sich die Möglichkeit auf, diese Dinge als schlechte Scherze zu sehen und die Musik als den besseren Scherz. Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich. Im Popmilieu, einer Arena, die sich die Gesellschaft hielt, um Symbole zu erzeugen wie zu entschärfen, in dem einzigen Milieu, wo ein Niemand wie Johnny Rotten eine Chance hatte, gehört zu werden, waren alle Regeln außer Kraft gesetzt. In Tönen, die die Popmusik noch nie von sich gegeben hatte, waren Ansprüche zu hören, die die Popmusik noch nie erhoben hatte.
Wegen Johnny Rottens lächerlicher Proklamation – wenn man so will, war er von seinem ersten auf Platte festgehaltenen Moment an ein heruntergekommener alter Mann im Regen, der seine irren Worte ausstoßen will (»I want to destroy passers-by«, krächzt der Antichrist und liest von seinem schmierigen Blatt Papier ab, »Ich will Passanten vernichten«; am besten macht man einen großen Bogen um den Penner) – kreischten Teenager Philosophie, verfassten Schläger Gedichte, entmystifizierten Frauen das Weibliche, benannte sich ein nettes jüdisches Mädchen namens Susan Whitby in Lora Logic um und erklomm die in einen Nebel von Gewalt und Chaos gehüllte Bühne im Roxy. Jeder schrie an der Melodie vorbei, dann am Reim, dann an den Harmonien, dann am Rhythmus, dann am Beat, bis der Schrei zum Grundprinzip, manchmal zum einzigen Prinzip der Sprache wurde. Alte Flüche wurden als Übermittler vergessener Verwünschungen, die wiederum verschüttete Wünsche enthielten, zu Plastikscheiben von sieben Zoll Durchmesser gepresst, in der Hoffnung, jemand würde die Codes knacken, von denen die Sprecher selbst nicht wussten, dass sie sie übermittelten.
Langsam fragte ich mich, woher diese Stimme kam. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ab Ende 1975, fand an einem bestimmten Ort – erst London, dann überall in Großbritannien, dann hier und da auf der ganzen Welt – eine Negation aller gesellschaftlichen Fakten statt, die eine Behauptung beinhaltete, dass alles möglich war. »Ich sah die Sex Pistols«, sagte Bernard Sumner von Joy Division (später, nach dem Selbstmord ihres Sängers, New Order). »Sie waren schauderhaft. Ich fand sie großartig. Ich wollte aufstehen und auch schauderhaft sein.« Künstler machten sich zum Narren, zogen über ihre Vorfahren her und bespuckten ihr Publikum, das zurückspuckte. Ich fragte mich, woher diese Gesten kamen. Letztlich war es nichts anderes als ein künstlerisches Statement, doch solche Statements sind selten, in welcher Form auch immer sie übermittelt und rezipiert werden. Ich wusste eine Menge über Rock ’n’ Roll, aber darüber wusste ich nichts. Kamen die Stimme und die Gesten aus dem Nirgendwo, oder gab es eine Art Initialzündung? Und wenn sie gezündet wurden, wie und wodurch?
EIN ZWANZIGJÄHRIGER
steht vor einem Mikrofon, erklärt sich zu einem alles verzehrenden Dämon und macht dann alles um sich her nieder … legt es in Schutt und Asche. Den Ansprüchen der Gesellschaft verweigert er sich mit Gelächter, und mit einer Vokalverschiebung, so gewaltsam, dass sie pure Freude auslöst, zieht er seiner Gesellschaft die Geschichte unter den Füßen weg. Die Früchte westlicher Zivilisation reduziert er auf eine Reihe von Guerilla-Abkürzungen, die grüne und liebliche Insel England zu einem Häuserblock Sozialwohnungen. »Unsere Architektur ist so banal und destruktiv für den menschlichen Geist, dass einen bereits der Gang zur Arbeit in Depressionen stürzt. Die Straßen sind schäbig, eklig und müllbedeckt, der Beton fleckig vom Regen und graffitibeschmiert, die Treppenhäuser der Experimente sozialer Ingenieurskunst von Scheiße, Junkies und Graffiti übersät. Niemand verlässt sein Zimmer. Es gibt keinerlei Gemeinschaftsgefühl, weshalb alte Leute verzweifelt und einsam sterben. Die Lebensqualität ist gesunken« – das stammt nicht von Johnny Rotten aus der Zeit, als er 1976 »Anarchy in the U.K.« aufnahm, sondern von »Saint Bob« Geldof (der als Organisator einer Kampagne von Popmusikern gegen den Hunger in Afrika 1986 beinahe den Friedensnobelpreis bekommen hätte), der damit die Gesellschaftskritik von »Anarchy in the U.K.« 1985 wiederholte. Genau das sagte dieser Song, zu einem bissigen Eintopf zusammengekocht … bloß dass es nicht weinerlich klang, wenn ihn die Sex Pistols vortrugen, sondern sardonisch-vergnügt.
Is this the em pee el ay
Or is this the yew dee ay
Or is this the eye rrrrrr ay
I thought it was the yew kay
Or just
Another
Country
Another council tenancy!
Es war der Sound der einstürzenden Stadt. Aus dem wohlüberlegten, beabsichtigten Lärm, in dem die Worte sich so überschlugen, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, hörte man, wie gesellschaftliche Fakten zerfielen; wenn Johnny Rotten seine Rs rollte, klang es, als hätte er nadelspitz zurechtgefeilte Zähne. Dieser Code musste nicht entschlüsselt werden: Wer kannte schon die MPLA, und wen kümmerte es? Die Welt kurz