Lipstick Traces. Greil Marcus
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»I Don’t Like Mondays« war ein Hit; in den USA hätte er die Nummer Eins werden können, wäre nicht Brenda Spencers Recht auf ein faires Gerichtsverfahren dazwischengekommen. Zu schade … stand ein Song wie »I Don’t Like Mondays« nicht für alles, was »Punk« ausmachte, wie man die von den Sex Pistols hervorgebrachte, vermutlich nihilistische Musik nennen sollte? Aber was machte sie aus? Im Verlauf eines Interviews klingt Geldofs Version von »Anarchy in the U.K.« ebenso wie die Erklärungen, die Johnny Rotten 1976 und 1977 für Interviewer parat hatte, völlig rational. Aber auf Schallplatte erinnern einen sowohl Fleischfresser Johnny als auch Saint Bob an die Worte des Surrealisten Luis Buñuel; der nannte, wie die Filmkritikerin Pauline Kael schreibt, »einmal diejenigen, die Un Chien andalou lobten, ›jenen Haufen Kretins, die den Film schön oder poetisch finden, obwohl er im Grunde genommen ein verzweifelter und leidenschaftlicher Aufruf zum Mord ist‹«.
Es geht um Nihilismus … doch »Anarchy in the U.K.« war, wie ein Fan gern glauben möchte, etwas anderes: eine Farce zum Zwecke der Negation. »›Anarchy in the U.K.‹ ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, von höchster Unabhängigkeit, von Die-Dinge-selbst-in-die-Hand-nehmen«, sagte Malcolm McLaren, der Manager der Sex Pistols, und was immer das heißen mochte (was selbst in die Hand nehmen?), Nihilismus war es nicht. Nihilismus ist der Glaube an nichts und der Wunsch, nichts zu werden; das Vergessen ist seine Hauptleidenschaft. Seine beste Darstellung findet sich in Tulsa von Larry Clark, seinen fotografischen Memoiren über Jugendliche in den frühen sechziger Jahren, die sich lieber mit Speed zu Tode spritzen, als so zu werden, wie sie bereits aussahen: Charley Starkweathers und Caril Fugates aus Tulsa, Oklahoma. Nihilismus kann in der Kunst zwar eine Stimme, aber niemals Befriedigung finden. »Wir spielen hier nicht Theater, Larry«, sagte einer seiner Nadelkumpane zu ihm, als er einmal ein Foto zu viel geschossen hatte. »Das ist das beschissene echte Leben.« »Andere glaubten also, es sei kein Theater«, erinnerte sich Clark Jahre später, »ich schon« – obwohl er mitgemacht und einen Selbstauslöser benutzt hatte, um zu fotografieren, wie das Blut an seinem Arm runterlief.
Nihilismus bedeutet, die Welt in ihren eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint … doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, dass sie die Möglichkeit offenlässt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Ganz gleich wie viele Menschen der Nihilist (oder die Nihilistin) töten mag, sie bleiben immer Solipsisten: Keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real. Wenn der Nihilist den Abzug betätigt, den Gashahn aufdreht, Feuer legt, die Ader trifft, endet die Welt. Negation ist immer politisch: Sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja ruft sie erst ins Leben. Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht – echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung – auch die des Nihilisten. Als Negation ließ sich »Anarchy in the U.K.« in Interviews rational übersetzen: Da er zu beweisen versucht, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt der Negationist, dass die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint. Doch als »Holidays in the Sun«, die vierte und letzte Single der Sex Pistols, im Oktober 1977 auf den Markt kam, wurden solche »Übersetzungen« weder angeboten, noch waren sie möglich.
MITTLERWEILE
erhoben zahllose neue Gruppen öffentlicher Stimmen unmögliche Ansprüche, und die Sex Pistols gerieten in ganz Großbritannien unter Beschuss. Während einer im Namen des öffentlichen Anstands, ja sogar der öffentlichen Sicherheit geführten Kampagne verboten die Behörden ihre Konzerte; Ladenketten weigerten sich, ihre Platten in ihr Sortiment aufzunehmen. EMI, die erste Plattenfirma der Sex Pistols, nahm »Anarchy in the U.K.« vom Markt, als die Platte gerade ihr Publikum erreichte; nach dem vom Fernsehen übertragenen »Fuck«, das Declan McManus so viel Spaß gemacht hatte, ließ die Firma sie fallen, rief die Platten zurück und schmolz sie ein. Patriotische Arbeiter weigerten sich, die Nachfolgesingle »God Save the Queen« herzustellen, eine dreiminütige Randale gegen das silberne Krönungsjubiläum von Elizabeth II.; A&M, die zweite Plattenfirma der Band, vernichtete die wenigen gepressten Exemplare. Als Virgin, das dritte Label der Sex Pistols, die Platte endlich veröffentlichte, wurde »God Save the Queen« aus den BBC-Charts gestrichen und stand als weißer Fleck an der Spitze der Hitparade, was zu der bizarren Situation führte, dass die beliebteste Schallplatte des Landes illegal war. Die Presse schürte eine moralische Panik, um ihre Auflagen zu steigern, doch bald gewann die Panik durchaus reale Züge: Im Parlament wurden die Sex Pistols als Bedrohung der britischen Lebensart angeprangert, von Sozialisten als Faschisten, von Faschisten als Kommunisten beschimpft. Man griff sich Johnny Rotten auf der Straße und schnitt ihn mit einem Rasiermesser, ein anderes Bandmitglied wurde gejagt und mit einer Eisenstange malträtiert.
Die Gruppe selbst war verfemt. Ende 1975, als die Sex Pistols zum ersten Mal in Erscheinung traten, sich in das Konzert einer anderen Band drängten und so taten, als seien sie die Vorgruppe, zog man nach zehn Minuten den Stecker raus; jetzt mussten sie, um in der Öffentlichkeit zu spielen, heimlich auftreten, unter falschem Namen. Die Leere des von ihnen erschlossenen Terrains – die zahllosen neuen Stimmen von unten, die Häufung der Schmähungen von oben, der Kampf beider Seiten um die Kontrolle dieses plötzlich freien Terrains – hatte sie zur Selbstzerstörung getrieben, in das jedem nihilistischen Lärm eigene Schweigen.
Diese Möglichkeit hatte von Anfang an bestanden … eine der Gassen, die von der offenen Straße wegführten. Im Herzen der Sex-Pistols-Musik gähnte ein schwarzes Loch, die mutwillige Lust an der Zerstörung von Werten, mit denen sich niemand anfreunden konnte, und vielleicht war Johnny Rotten deshalb von Anfang an der einzige wahrhaft furchterregende Sänger, den der Rock ’n’ Roll je erlebt hat. Doch der Schrecken nahm gegen Ende eine neue Gestalt an: Zweifellos hat noch keiner bis auf den Grund von »Holidays in the Sun« geblickt, und wahrscheinlich wird es auch keiner je tun.
Angefangen hatten die Sex Pistols, als verfolgten sie ein Projekt; in »Anarchy in the U.K.« verdammten sie die Gegenwart, in »God Save the Queen« die Vergangenheit so heftig, dass ihr Fluch die Zukunft gleich mitriss. »NO FUTURE« …
NO FUTURE
NO FUTURE
NO FUTURE FOR YOU
NO FUTURE
NO FUTURE
NO FUTURE
NO FUTURE FOR ME
… so lautete der ätzende Chorus am Ende des Songs. »No future in England’s dah-rrrreeming!«: Englands Traum einer glorreichen Vergangenheit, wie ihn die Queen verkörperte, die »Idiotin« (»moron«), zentrale Touristenattraktion des Landes, Stütze einer auf nichts basierenden Wirtschaft, Balsam für den kollektiven Phantomschmerz Englands nach dem Verlust des Empire. »We’re the future«, schrie Johnny Rotten und hörte sich mehr denn je wie ein Verbrecher, ein entflohener Geisteskranker, ein Höhlenmensch an … »Your future«. Die Sex Pistols waren von der Presse als Vorboten einer neuen Jugendbewegung gefeiert worden; mit »God Save the Queen« stritten sie dies ab. Jede Jugendbewegung stellt sich als Darlehen auf die Zukunft dar und versucht, es vorzeitig einzulösen, aber wenn es keine Zukunft gibt, sind alle Darlehen gestrichen.
Die Sex Pistols wollten mehr sein als ein Stichwort in der nächsten überarbeiteten Ausgabe eines soziologischen Nachschlagewerks über Jugendkulturen im Nachkriegsgroßbritannien. Was dieses »mehr« war, hätte man vielleicht einem Textfragment auf der Hülle von »White Riot« / »1977« entnehmen können, der ersten Platte der Clash: »Es gibt eventuell eine gewisse Spannung in der Gesellschaft, wenn vielleicht überwältigender