Lipstick Traces. Greil Marcus

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Lipstick Traces - Greil Marcus

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der es hörte.

      »I Wish I Was a Mole in the Ground« war kein »Tierlied« wie »Froggy Went A-Courtin’« oder »The Leatherwing Bat«, sondern ein Ausflug in die Mystik des Alltags; wir hören von einem Mann, der seinen Pflug fallen lässt, sich auf den Boden setzt, seine Stiefel auszieht und Wünsche heraufbeschwört, die er nie erfüllen wird. Er liegt auf dem Rücken in der Sonne:

      Oh, I wish I was a mole in the ground

      Yes, I wish I was a mole in the ground

      Like a mole in the ground I would root that mountain down

      And I wish I was a mole in the ground

      Was der Sänger will, liegt zwar auf der Hand, ist aber fast unmöglich zu fassen. Er will von seinem Dasein befreit und in eine unscheinbare und verachtete Kreatur verwandelt werden. Er will nichts sehen und von keinem gesehen werden. Er will die Welt vernichten und sie überleben. Mehr will er nicht. Der Vortrag ist ruhig, gleichmäßig, und diese Ruhe bezieht uns mit ein: Man kann zuhören und über das Gehörte nachdenken. Man kann sich zurücklehnen und vorstellen, wie es wäre, das zu wollen, was der Sänger will. Es ist eine nahezu absolute Negation, an der Grenze zum puren Nihilismus, der Wunsch eines Beweises, dass die Welt nichts ist, der Wunsch, fast nichts zu sein, und doch hat er beruhigende Wirkung.

      Dieser Song gehört zu der Strömung, die den Rock ’n’ Roll hervorbrachte … nicht weil eine Zeile aus ihm in Bob Dylans »Memphis Blues Again« auftauchte, sondern weil seine eigenartige Mischung aus Fatalismus und Verlangen, Hinnahme und Aufbegehren 1955 in »Mystery Train« von Elvis Presley auftauchte. In diesem grundlegenden Statement neigte er die Waagschale in Richtung Affirmation, verdeckte das Negative, ohne es je aufzugeben, sondern behielt es als Spannungs- und Reibungsprinzip bei, was dem »Ja« des Rock ’n’ Roll immer seinen Elan gab … und so sah die Geschichte des Rock ’n’ Roll aus, bis zum Oktober 1977, als die Sex Pistols zufällig auf den in der Form verschlüsselt vorhandenen zerstörerischen Impuls stießen, diesen Impuls gegen die Form wendeten und sie sprengten. Das Ergebnis war Chaos; man konnte sich nirgendwo hinlegen, und es war keine Zeit, über irgendetwas nachzudenken. Dies passierte wirklich. Während der letzten Minute von »Holidays in the Sun« ließen die Sex Pistols jede andere Band der Welt hinter sich: Johnny Rotten kletterte, wühlte mit den Händen, warf Mauerbrocken über die Schulter, schrie sein Unvermögen hinaus, mehr als seine Zuhörer von der Story zu verstehen, und verfluchte seine Unfähigkeit, das zu begreifen, was Bascom Lamar Lunsford 1924 als ihm unbegreiflich akzeptiert hatte.

      Was ist bloß los? Es hört sich an, als wären Hitlers Legionen von den Toten auferstanden und an die Stelle netter Touristen, netter ostdeutscher Bürokraten, netter westdeutscher Geschäftsleute getreten … oder als wären Nazis aus den Häuten der ihre Stelle einnehmenden Kapitalisten und Kommunisten getreten. Johnny Rotten gibt sich einem Sog hin wie Eisenspäne einem Magneten, doch er hält ein, bremst ab, versucht nachzudenken. Während Buñuel diejenigen verdammte, die seinen Film schön oder poetisch fanden, obwohl der doch im Grunde ein Aufruf zum Mord war, hatte man den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Versuch zugebracht, zu beweisen, das Schöne, das Poetische und der Aufruf zum Mord seien ein und dasselbe – und in den letzten Sekunden von »Holidays in the Sun« schien Johnny Rotten dies zu begreifen. Vielleicht wollte er das mit seinem ständigen Schrei »I DON’T UNDERSTAND THIS BIT AT ALL!« gegen Ende des Songs sagen, er schien zu sagen, dass er es nicht verstehen wollte; er schien sagen zu wollen, wenn er in die Leere des Jahrhunderts blickte, sähe er die Leere zurückstarren. Johnny Rotten ging durch die Mauer. »Please don’t be waiting for me«, wartet nicht auf mich, sagte er. Damit endete der Song.

      Sein Ziel war vermutlich, all die Wut, Intelligenz und Kraft seines Seins zu nehmen und der Welt entgegenzuschleudern: damit die Welt Notiz nahm, damit die Welt ihre am meisten gehätschelten und am wenigsten bezweifelten Ansichten in Frage stellte, damit die Welt mit der Münze des Alptraums für ihre Verbrechen zahlte. Und damit die Welt unterging – symbolisch, wenn nicht anders möglich. Und einen Moment lang schaffte er das auch.

      So ließen die Sex Pistols die Welt untergehen, jedenfalls ihre eigene. Als Nächstes hörte man von Auflösung, Mord, Selbstmord … und auch wenn die Fakten in jedem Fall in den zuständigen Zivil- und Strafprozessen festgehalten wurden, wer weiß schon, ob die Ereignisse dort stattfanden, wo die Menschen wirklich leben, oder im symbolischen Reich des Popmilieus? Den Nihilisten macht man für die Verfehlungen seines Doubles, des Negationisten, verantwortlich; meistens mieten sie dieselben Zimmer, manchmal zahlen sie dieselben Rechnungen. Der Leichenbeschauer – ob er nun Fan, Epigone, Kritiker oder bester Freund ist – kann den Unterschied gewöhnlich nicht durch einen Blick auf die Leiche feststellen. Die Sex Pistols waren eine Masche, der Versuch, mit Skandalen Erfolg zu schinden, »Cash aus Chaos«, wie einer von Malcolm McLarens Slogans lautete. Außerdem waren sie ein sorgfältig konstruierter Beweis dafür, dass sämtliche überlieferten hegemonistischen Thesen darüber, wie die Welt angeblich funktionierte, eine so komplette und korrupte Fälschung waren, dass sie unbedingt so komplett zerstört werden mussten, bis jede Erinnerung an sie ausgelöscht war. In dieser Asche wäre alles möglich und erlaubt: die intensivste Liebe, das beiläufigste Verbrechen.

       ES IST EINE

      Alchemie am Werk. Ein uneingestandenes Erbe von Verlangen, Abneigung und Abscheu wurde so lange gekocht und eingeschmolzen, bis es einen einzigen Akt öffentlicher Rede ergab, der bei einigen Menschen überkommene Gewissheiten, eingebildete Wünsche und eingegangene Kompromisse platzen ließ. Es war, wie sich herausstellte, eine verdrehte Geschichte.

      Dieses Buch behandelt eine einzige beziehungsreiche Tatsache: Ende 1976 kam in London eine »Anarchy in the U.K.« betitelte Schallplatte auf den Markt, ein Ereignis, das weltweit die Popmusik veränderte. Der von einer vierköpfigen Band namens Sex Pistols aufgenommene und von deren Sänger Johnny Rotten geschriebene Song destillierte, in kruder poetischer Form, eine Kritik der modernen Gesellschaft, wie sie einmal von einer kleinen in Paris beheimateten Gruppe von Intellektuellen aufgestellt worden war. 1952 als Lettristische Internationale gegründet, wurde die Gruppe 1957 auf einer Konferenz der europäischen Avantgarde als Situationistische Internationale neugegründet und erregte während der französischen Revolte im Mai 1968 am meisten Aufmerksamkeit, als die Prämissen ihrer Kritik, zu groben poetischen Slogans verarbeitet, auf die Mauern von Paris gesprayt wurden; anschließend wurde die Kritik der Geschichte überlassen, und die Gruppe verschwand. Besagte Gruppe berief sich auf die Surrealisten der zwanziger Jahre, auf die Dadaisten, die sich während des Ersten Weltkriegs und kurz danach einen Namen machten, auf den jungen Karl Marx, Saint-Just, diverse mittelalterliche Ketzer sowie die Ritter der Tafelrunde.

      Meiner Überzeugung nach sind solche Verbindungen in erster Linie seltsam. Dass die gnomische, gnostische Kritik, von einer Handvoll Kaffeehaus-Propheten am linken Seineufer erdacht, ein Vierteljahrhundert später erneut auftaucht, um die Charts zu erobern, und anschließend als ganz neuer Forderungskatalog an die Kultur zu Leben erwacht – das ist schon beinahe auf transzendente Weise seltsam.

       VERBINDUNGEN

      zwischen den Sex Pistols, Dada und dem so hochtrabend Situationistische Internationale genannten Gebilde bis hin zu vergessenen Ketzereien wurden nicht von mir entdeckt. In den frühen Tagen des Londoner Punk fand sich kaum ein Artikel zum Thema, in dem das Wort »Dada« fehlte: Punk sei »wie Dada«, sagten alle, doch keiner erklärte, warum, ganz zu schweigen davon, was das heißen sollte. Anspielungen auf Malcolm McLarens angebliche Kontakte zu der geheimnisvollen »S.I.« wurden in der britischen Pop-Presse als Insiderwissen gehandelt, aber dieses Wissen brachte einen anscheinend nicht weiter.

      Dennoch hörte sich das alles interessant an, auch wenn »Dada« für mich allenfalls ein Wort war, das nur vage an eine verflossene

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