Lipstick Traces. Greil Marcus

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Lipstick Traces - Greil Marcus

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die Sex Pistols je bedeutet hätten. Doch was war das? Für den Gitarristen Steve Jones, einen Analphabeten und Kleinkriminellen, und Paul Cook, Aushilfe eines Elektrikers, waren es Mädchen und Spaß. Für den ersten Bassisten Glen Matlock, einen ehemaligen Kunststudenten und Verkäufer im Sex-Shop, war es Popmusik. Für Sid Vicious, den Junkie, der seinen Platz einnahm, war es der Status eines Popstars. Was Johnny Rotten betraf, der erzählte so viel Verschiedenes (unter anderem, nach Auflösung der Gruppe: »Steve kann abhauen und Peter Frampton werden« – was er nicht tat; »Sid kann abhauen und sich umbringen« – was er tat; »Paul kann wieder Elektriker werden« – was er vielleicht noch tun wird) und musste wohl erst noch erklären, was er meinte.

       DIE SEX PISTOLS

      nannten ihren letzten Auftritt den schlechtesten ihrer Laufbahn, aber für die Fünftausend im proppevollen Winterland Ballroom in San Francisco am 14. Januar 1978 war dieser Auftritt der Tag des Jüngsten Gerichts … und zwar nicht etwa, weil viele die Zettel gelesen hätten, die Evangelisten vor dem Gebäude verteilten: »In jedem von uns steckt ein Johnny Rotten, und der muss nicht befreit werden – man muss ihn kreuzigen!»

      Für Johnny Rotten wäre das ein alter Hut gewesen; auf einem seiner Publicity-Fotos sieht man ihn an ein Kreuz genagelt. In London war die von den Sex Pistols und ihren ersten Anhängern geschaffene Subkultur bereits von denjenigen für tot erklärt worden, die sich mit solchen Erklärungen beschäftigen: eine ehemals geheime, durch Schlagzeilen und Tourismus Gemeingut gewordene Gesellschaft. Oder war Punk anfangs tatsächlich eine Art Geheimgesellschaft, die sich nicht der Wahrung eines Geheimnisses, sondern der Suche danach verschrieben hatte, eine Gesellschaft, die auf der blinden Überzeugung beruhte, es gebe ein Geheimnis zu entdecken? Wurde die Story reif für ihre eigenen Fußnoten, als das Geheimnis erst einmal aufgedeckt schien, als Punk zu einer Ideologie des Protestes und der Selbstdarstellung geworden war – als die Leute wussten, was sie zu erwarten hatten, als sie begriffen, was sie bekamen, wenn sie ihr Geld hinblätterten, oder was sie alles tun würden, um es zu verdienen?

      In den USA hatten sich landesweit erste Enklaven gebildet (Nachtclubs, Fanzines, Plattenläden, ein halbes Dutzend Oberschüler hier, ein Künstlertrio dort, ein Mädchen, das sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, um ihre neue Frisur im Spiegel anzustarren), wenn auch vielleicht weniger aufgrund des Reizes, zehn Dollar teure Importexemplare der verbotenen »Anarchy«-Single zu hören, als aufgrund von Zeitungs- und Fernsehberichten über Londoner Jugendliche, die ihre Gesichter mittels Haushaltsgegenständen entstellten. Echte Entdeckungen fanden statt, aus dem Nichts (»Die ursprüngliche Szene«, berichtete ein Mitgründer des Punkmilieus von Los Angeles, »bestand aus Leuten, die Risiken eingingen und auf obskure Informationsfetzen hin handelten«); für einige sollten diese Entdeckungen, eine neue Art zu gehen und eine neue Art zu reden, noch auf Jahre hinaus die Widersprüche des Alltagslebens anschaulicher und das Leben interessanter machen, als es sonst gewesen wäre.

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      Atelier-populaire-Plakat, Mai 1968

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      Sex-Pistols-Werbezettel von Jamie Reid, 1977

      »Jetzt ist die Zeit für Publikumsbeteiligung«, sagte Joe Strummer von den Clash Ende 1976 von der Bühne herab. »Ihr erzählt mir jetzt alle, warum ihr hier seid.« Während sie darauf warteten, dass die Sex Pistols im Winterland auf die Bühne kamen, fragten sich vielleicht eine Menge Leute, warum sie da waren … fragten sich, warum sie so wirre und wilde Erwartungen hegten. Von allen in diesem Augenblick codierten Geschichten war wenigstens eine musikalisch; mit allen geheimen Inhalten der Musik verglichen, war diese Story beinahe lautlos, doch ich werde sie als erste erzählen.

       »HAST DU

      die Sex Pistols gesehen?« flüsterte Joe Strummer eines Abends Ende 1976 Graham Parker zu, als gebe er ein so unwahrscheinliches Gerücht weiter, dass er sich nicht traute, lauter zu reden. Sie gehörten der Londoner Pub-Rock-Szene an (Parker eiferte Wilson Pickett und den Temptations nach, Strummers Vorbilder hießen Chuck Berry und Gene Vincent) – ein weiterer vergeblicher Versuch, die bombastische Musik der siebziger Jahre zu den Wurzeln zurückzuführen. »Nein«, antwortete Parker. »Die Sex Pistols?« »Völlig neues Ding, Mann«, sagte Strummer, »völlig neues Ding.«

      Umgehend verließ Strummer seine Rock-Revival-Band und gründete die Clash: »Gestern hielt ich mich für eine Niete«, begründete er später gegenüber Freunden seinen Entschluss. »Dann sah ich die Sex Pistols und wurde zum König.« Eine gute Geschichte, zu gut, um wahr zu sein, doch in der Musik wurde sie wahr, und ganz besonders in der Musik der Slits. Sie waren die erste reine Frauen-Punkband: vier Teenager, die nicht die leiseste Ahnung hatten, wie man irgendetwas machte, außer auf die Bühne klettern und schreien. Sie riefen »Fuck you«, und das hieß: »Warum nicht?« Es war, schrieb Jon Savage viel später, der Sound von Menschen, die ihre eigene Power entdeckten.

       EIGENTLICH

      hinterließen die Slits nichts außer einem vor Sprachlosigkeit brüllenden Gegenstand: eine LP ohne Titel in der unbedruckten Hülle einer Raubpressung. Ich stelle mir gern vor, dass die Platte »Once Upon a Time in a Living Room« heißt, bin mir aber nicht ganz sicher; auf dem Label stehen beliebig hingekritzelte Sätze statt Titel, die Namen der Songs muss man sich aus diversen Vorschlägen auswählen. Nehmen wir »A Boring Life« – sobald die Musik einsetzt, habe ich nie versucht, auch nur ein Wort zu verstehen.

      Eine Slit kichert; eine zweite fragt: »You ready?«, eine andere antwortet: »Ready?«, als würde ihr das nie gelingen, dann gibt die vierte das Kichern zurück wie Alice, als sie in den Kaninchenbau hinabtaucht: »Ah, ah, OH NOOOOO …« Es ist das letzte Geräusch, das man am höchsten Punkt einer Achterbahn hört, und in der folgenden Totenstille hat man Zeit, an Elvis in Sam Phillips’ Sun Studios zu denken, wie er 1955 »Milkcow Blues Boogie« mit einem kleinen einstudierten Vorspann einleitete (»Hold it, fellas! That don’t move me! Let’s get real, real gone for a change!«), nur ist der Slits-Vorspann zu belanglos, um einstudiert zu sein, geschweige denn irgendwohin zu führen, und dann zerbricht die Stille unter kompromisslosem Lärm. Dieses komprimierte Drama – Verlegenheit und Erwartung, Zaudern und Panik, Stille und Lärm – macht den gesamten Punk aus.

      Die Slits waren Ari Up, Sängerin, Palmolive, Drums, Viv Albertine, Gitarre, und Tessa, Bass. Der Rolling Stone Rock Almanac notiert unter dem Datum 11. März 1977: »Die Slits treten zum ersten Mal live auf, als Vorgruppe der Clash im Londoner Roxy … [Sie] haben an dem doppelten Fluch ihres Geschlechts und ihres Stils zu tragen, der das Konzept des aufgeklärten Dilettantismus auf die Spitze treibt … Die Slits reagieren auf den Vorwurf der Unfähigkeit damit, dass sie einzelne Zuhörer zum Musizieren auf die Bühne bitten, während die vier Frauen im Zuschauerraum tanzen.« Dabei fällt einem eine Zeile einer alten jamaikanischen Single ein … aus Prince Busters »Barrister Pardon«, dem letzten Teil seiner Judge-Dread-Trilogie, die von einem Rächer handelt, der aus Äthiopien kam, um die Slums in Kingston von ihren Rude-Boy-Hooligans zu befreien. Auf drei Singles verurteilt er jugendliche Mörder zu Hunderten von Jahren Gefängnis, bringt ihre Anwälte hinter Gitter, wenn sie die Frechheit besitzen, in Berufung zu gehen, lässt jeden im Gerichtssaal in Tränen ausbrechen, lässt alle frei, hopst von der Richterbank und tanzt mit der Menge den Cakewalk: »I am the judge, but I know how to dance.« In »A Boring Life« verhandelten die Slits alle anderen Versionen von Rock ’n’ Roll: »Milkcow Blues Boogie«, »Barrister Pardon«, die minderwertigen offiziellen Platten, die sie selbst herausbrachten, als ihr Moment vorüber war.

      Es war unvergleichlich. Schreien und Kreischen,

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