Lipstick Traces. Greil Marcus
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Vielleicht ging es den Sex Pistols also um einen Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten. Als Nummer zwei der Londoner Punk-Bands hatten die Clash immer die Aufgabe, den Rätseln der Sex Pistols einen Sinn zu geben, und dieses Zitat klang durchaus sinnvoll … allerdings brauchte man sich »God Save the Queen« nur ein einziges Mal anzuhören, und jeder Sinn war dahin.
Der verzehrende Abscheu in Rottens Stimme (»We love our Queen / We mean it, man / God save« – damit endete dieser Vers), die grelle Unversöhnlichkeit der Musik waren so intensiv, dass sie Unversöhnlichkeit zu einem alles umfassenden neuen Wert schlechthin machten; allein wie »God Save the Queen« klingt, lässt an Forderungen denken, die keine Regierungskunst je erfüllen könnte. »God save«: Die Betonung deutete an, dass es keine Rettung gab. Ein Gitarrenlick riss den Song und jeden, der ihn hörte, entzwei.
Was blieb? Vielleicht Mummenschanz: Mit »Pretty Vacant«, ihrer dritten Single, waren die Sex Pistols aus seit Jahrhunderten erkalteten Gräbern als Lollarden wiederauferstanden, Verkünder der uralten britischen Ketzerei, die Arbeit mit Sünde gleichsetzte und beide verwarf. Arbeit ist laut Bibel Gottes Strafe für die Erbsünde, doch in der Bibel der Lollarden stand das nicht. Sie sagten, Gott sei vollkommen, Menschen seien Geschöpfe Gottes, also seien Menschen vollkommen und könnten nicht sündigen, außer gegen ihre eigene vollkommene Natur, indem sie arbeiteten, indem sie ihre gottgegebene Autonomie der Herrschaft der Mächtigen opferten, der Lüge, die Welt sei für etwas anderes als das eigene Vergnügen geschaffen. Im vierzehnten Jahrhundert war das ein gefährlicher Glaube, in einem Popsong des zwanzigsten Jahrhunderts klang diese Idee eher seltsam, aber da war sie nun einmal, und wer weiß, welche verschütteten Wünsche daraus sprachen?
»Wir hatten keine Ahnung, dass es sich so rasch ausbreiten würde«, gestand Bernard Rhodes, 1975 einer von Malcolm McLarens Mitverschwörern in der Sex-Boutique, später Manager der Clash. »Wir hatten kein Manifest. Wir hatten kein Regelbuch, hofften aber … Ich dachte daran, was mir Jackie Wilsons ›Reet Petite‹ gegeben hatte, die erste Platte, die ich mir kaufte. Mir musste keiner erzählen, worum es dabei ging, ich wusste es … 75 hörte ich Radio, irgendein Fachmann brabbelte über das, was 1979 passieren würde, wenn es 800 000 Arbeitslose gäbe, während ein anderer sagte, dann entstünde Chaos, es würde auf den Straßen regelrechte – Anarchie geben. Das war die Wurzel des Punk. Das wusste man.«
Sozialisten wie Bernard Rhodes wussten es; es war nie so richtig klar, was Malcolm McLaren oder sein Partner Jamie Reid – bevor sie die Sex-Boutique aufmachten, anarchistischer Verleger und Plakatmaler – zu wissen glaubten. Als »Pretty Vacant« im Juli 1977 veröffentlicht wurde, gab es in Großbritannien die unvorstellbare Zahl von einer Million Arbeitslosen, ein gesellschaftliches Faktum, mit dem sich die Punkband Chelsea auf ihrer Protestsingle »Right to Work« beschäftigte. Doch Johnny Rotten hatte die Sprache des Protests nie gelernt, mit der man zu seinem Recht kommen wollte, indem man die Macht um etwas anfleht und durch den Akt des Sprechens legitimiert: Darum ging es nicht. In »Pretty Vacant« beanspruchten die Sex Pistols das Recht, nicht zu arbeiten, und das Recht, sämtliche dazugehörigen Werte zu ignorieren: Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Frömmigkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit und Hoffnung, die Vergangenheit, zu deren Abgeltung Gott die Arbeit erfunden hatte, die Zukunft, die mittels Arbeit aufgebaut werden sollte. »Your God has gone away«, euer Gott ist verschwunden, wie Johnny Rotten bereits auf »No Feelings«, der B-Seite der ersten, eingeschmolzenen Pressung von »God Save the Queen« gesungen hatte, »Be back another day«. Verglichen mit Rhodes’ Soziologie redete Johnny Rotten in fremden Zungen. Es gab eine Million Arbeitslose, und da saßen die Sex Pistols in Hauseingängen herum, putzten sich heraus und kotzten die Worte aus: »We’re pretty / Pretty vacant / We’re pretty / Pretty vacant / We’re pretty / Pretty vacant / And we don’t care.« Das war ihre bis dato lustigste Platte und ihre professionellste. Sie klangen eher nach Beatles als nach Verkehrsunfall, doch Johnny Rotten sang sich beim letzten Wort die heraushängende Zunge wund; wie bei den früheren Singles entlockte »Pretty Vacant« dem Zuhörer Gelächter, um es ihm dann wieder in die Kehle zurückzustopfen.
Das war also das Projekt: Gott und der Staat, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Jugend und Arbeit, all das hatten die Sex Pistols bereits hinter sich, als sie auf das Ende ihres ersten und letzten Jahres in den Charts zusteuerten. Nun blieb nur noch »Holidays in the Sun« übrig: ein wohlverdienter Urlaub, wenn auch mit geopolitischem und welthistorischem Hintergrund, der mehr Terrain verschluckte, als die Sex Pistols je betreten, und mehr Jahre, als sie auf der Erde zugebracht hatten.
DAS COVER
war köstlich: Für die Vorderseite hatte man sich den Reklame-Comicstrip eines Reisebüros ausgeliehen, auf dem sich glückliche Touristen am Strand, in einem Nachtclub, auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer tummelten und ihren Urlaub in Sprechblasen lobten, aus denen Jamie Reid die Werbesprüche entfernt und die er mit den Worten gefüllt hatte, die Johnny Rotten auf dem Vinyl singt: »Ein billiger Urlaub im Elend anderer Leute!« Auf der Rückseite fand sich eine idyllische Familienszene, Essenszeit, ein Foto, auf das Reid kleine Kommentare geklebt hatte: »nettes Bild«, »nette Möbel«, »nettes Zimmer«, »nette Dame mittleren Alters«, »netter Mann mittleren Alters«, »nettes Essen«, »nettes Foto«, »netter junger Mann«, »nette junge Dame«, »nette Geste« (der nette junge Mann hält die Hand der netten jungen Dame), »nettes kleines Mädchen« (es streckt gerade die Zunge raus) und sogar, am unteren Rand, »nette Plattenhülle«. »I don’t want a holiday in the sun«, setzte Johnny Rotten ein, »I want to go to the new Belsen.«
Und das tat er. Los ging’s nach Deutschland, hinter ihm die marschierenden Füße von Pauschaltouristen, angezogen von dem Schreckgespenst des KZ, das für die Briten die gleiche Funktion erfüllt wie Auschwitz für die Amerikaner: ein Symbol des modernen Bösen. »Ich will ein bisschen Geschichte sehen«, sagt er, doch die Geschichte ist unerreichbar; Belsen liegt hier gar nicht in Deutschland, sondern in etwas, das man »Ostdeutschland« nannte, weniger Ort als ideologisches Konstrukt, und so findet sich Johnny Rotten am Fuß der Berliner Mauer wieder, des ideologischen Konstruktes, das die Trennung zwischen den beiden die Welt beherrschenden Gesellschaftssystemen symbolisiert, eine Welt, die mehr so wie jetzt ist, als sie es je war.
Johnny Rotten steht an der Berliner Mauer. Leute glotzen ihn an, er findet es unerträglich; der Lärm marschierender Füße wird lauter, auch das findet er unerträglich. Als die Band hinter ihm in Raserei gerät, fängt er an zu schreien: Er will über die Mauer. Sind dort die echten Nazis? Ist Ost-Berlin so, wie der Westen in der von ihm bereits prophezeiten Nicht-Zukunft aussehen wird? Er kann nicht anders, er will unter der Mauer durch. Offenbar weiß er nicht, was er singt, aber die Musik treibt weiter und zwängt den Hörer ein wie die schrumpfende Kammer bei Edgar Allan Poe. Die Brüche in Johnny Rottens Stimme sind aberwitzig; kaum spricht er ein Wort aus, schon explodiert es in seinem Mund. Der Song macht wohl auch deshalb Angst, weil er scheinbar keinen Sinn ergibt, den Hörer aber dennoch in seine Absurdität hineinzieht und dort gestrandet zurücklässt; Zeit und Ort sind festgelegt, man könnte seine Position auf einer Karte bestimmen und wäre doch nirgendwo. Die einzige Entsprechung ist genauso festgelegt und genauso vage.
1924 NAHM
der zweiundvierzigjährige Anwalt Bascom Lamar Lunsford aus North Carolina eine alte Ballade auf, die den Titel trug »I Wish I Was a Mole in the Ground«; wie alt sie ist, weiß niemand. Da in ihr »the Bend« erwähnt wird, ein um die Jahrhundertwende benutztes Gefängnis im Staat Tennessee, ließe sich das Stück eventuell zeitlich und örtlich bestimmen, aber der Hinweis könnte genauso gut lange nach Entstehung des Songs hinzugefügt worden sein; gesichert