Lipstick Traces. Greil Marcus
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Es war keine heroische Suche; einige der Bücher verdienten es, auch die nächsten dreißig Jahre übersehen zu werden. In erster Linie war es ein Spiel, oder auch ein Jucken, das gekratzt werden wollte: das Aufspüren einer echten Story oder das Verfolgen einer falschen Fährte um des Vergnügens willen, das nur eine falsche Fährte bereitet. Die Recherche bewirkt, dass die Zeit voranschreitet, rückwärts läuft oder stehenbleibt. Zwei Jahre und fünfzehntausend Kilometer später lagen die ersten Nummern von Potlatch vor mir, einem Mitteilungsblatt der Lettristischen Internationale, das Mitte der fünfziger Jahre in Paris verteilt wurde; auf seinen hektographierten Seiten firmierte »Kritik der Architektur« als Schlüssel zur Kritik des Lebens. Hier wurde der große Architekt Le Corbusier als »M. Sing-Sing« und »Erbauer von Slums« verdammt. Seine Strahlende Stadt wurde als autoritäres Experiment sozialen Maschinenbaus verworfen, als Ansammlung »vertikaler Gettos« und turmhoher »Leichenschauhäuser«; die wahre Funktion von Le Corbusiers gefeierten »Wohnmaschinen«, so las man in Potlatch, sei es, Maschinen zu produzieren, die in ihnen wohnten. »Das Dekor bestimmt die Gesten«, schrieb die L.I.; »wir werden leidenschaftliche Häuser bauen.« Von einem Größenwahn beseelt, der im Gegensatz zu ihren verschmierten maschinegeschriebenen Seiten stand, brachte die L.I. Worte zu Papier, die »Anarchy in the U.K.« später in Bob Geldofs Mund legen sollten – das konnte man sich durchaus vorstellen. Doch als mir meine guatemaltekischen Reisen im Mikrofilmraum einfielen, fragte ich mich, ob es für die Geschichte der Sex Pistols etwas bedeutete, dass die Potlatch-Autoren (Gil J. Wolman, Michèle Bernstein und die vier anderen, die damals ihre Namen auf das Papier schrieben) im Sommer 1954 den Sturz des Reformers Arbenz durch die CIA als zentrales gesellschaftliches Ereignis wählten, als Metapher und als Mittler zu der Sprache der »alten Welt«, die sie zerstören wollten, zu der »neuen Zivilisation«, die sie schaffen wollten.
Hier fanden sich hellsichtige Versionen der Nachrichten der folgenden Woche, als Potlatch Saint-Just von der Guillotine zurückholte, um ein »Voraburteil« über Arbenz’ Weigerung abzugeben, Guatemalas Arbeiter gegen den unvermeidlichen Putsch zu bewaffnen (»Wer eine Revolution nur halbherzig macht, schaufelt sein eigenes Grab«). Außerdem fanden sich kryptische Verweise auf die Katharer, Ketzer im Frankreich des dreizehnten Jahrhunderts, sowie die neuesten Erkenntnisse der Teilchenphysik. Hier tauchte auch die erste Notiz eines immer wiederkehrenden situationistischen Themas auf: der Vorstellung vom »Urlaub« als einer Art Teufelskreis von Entfremdung und Unterjochung, ein Symbol der falschen Versprechungen des modernen Lebens, ein Gedanke, der mit CLUB MED – EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE im Paris des Mai 1968 als Graffito auftauchte und sich später, so schien es, in »Holidays in the Sun« verwandelte. »Nach Spanien oder Griechenland kann sich nun auch Guatemala zu den für den Tourismus geeigneten Ländern zählen«, schrieb die L.I. kühl und merkte an, dass die Exekutionskommandos der neuen Regierung bereits die Straßen von Guatemala City säuberten. »Wir hoffen, irgendwann mal hinzufliegen.«
DIE FRAGE
nach einer Ahnenreihe in der Kultur ist müßig. Jede neue Manifestation in der Kultur schreibt die Vergangenheit um, macht aus alten Unpersonen neue Helden und aus alten Helden Leute, die besser nie geboren worden wären. Neue Akteure durchkämmen die Vergangenheit nach Ahnen, schließlich bedeuten Ahnen Legitimität, und Neuheit bedeutet Zweifel – aber zu allen Zeiten tauchen vergessene Akteure aus der Vergangenheit nicht als Ahnen, sondern als Vertraute auf. Im Amerika der zwanziger Jahre war es Herman Melville, in der Rock ’n’ Roll-Ära der sechziger Jahre war es der Mississippi-Bluesman Robert Johnson aus den Dreißigern, in den entropischen siebziger Jahren des Westens war es der sorgfältig absolutistische deutsche Kritiker Walter Benjamin aus den Zwanzigern und Dreißigern. 1976 und 1977 sowie in den folgenden, symbolisch von den Sex Pistols umgestalteten Jahren waren es vielleicht Dadaisten, Lettristen, Situationisten sowie diverse mittelalterliche Ketzer.
Hörte man sich nur die Platten an, war das nicht besonders aufschlussreich. Als ich mir die Verbindungen ansah, die andere hergestellt und vorausgesetzt hatten (überprüfte man eine Angabe, führte sie zu nichts), verstrickte ich mich plötzlich in etwas, bei dem es weniger um kulturelle Ahnenforschung ging oder darum, die Beziehung zwischen den einzelnen Teilen einer Story zu verfolgen, als darum, eine Geschichte zu erfinden. Aus dem Schatten bekannter Ereignisse schälte sich eine unwesentliche Geschichte heraus; jede Manifestation beanspruchte während ihres kurzen Moments die ganze Welt, um dann zu einer zehnstelligen Zahl im Deweyschen Dezimalsystem reduziert zu werden. Wenn diese Story vor dem Hintergrund von Kriegen und Revolutionen auch annähernd stumm war, schien sie doch für dieses Jahrhundert charakteristisch zu sein, eine Geschichte, die immer wieder die Stimme erhebt und sie von neuem verliert; es schien eine Stimme zu sein, die sich nur erheben musste, um wieder verloren zu gehen.
Bei meinem Versuch, dieser Story zu folgen – wobei die Protagonisten immer wieder in die Kleider der anderen schlüpften, bis ich es aufgab, sie zum Stillhalten zu bewegen –, reizten mich ihre Lücken sowie jene Momente, in denen die Story, die ihre Stimme verloren hatte, diese irgendwie wiedergewinnt, und was sich danach entwickelt. Lange bevor ich Potlatch aufspürte, hatte ich eine »Die vergoldete Legende« überschriebene Anzeige dafür aus dem Jahr 1954 entdeckt, eine Seite in Les Lèvres nues, einer belgischen, auf Hochglanzpapier gedruckten neosurrealistischen Zeitschrift. »Das Jahrhundert hat ein paar große Brandstifter gekannt«, stand in der Anzeige. »Heute sind sie entweder tot, oder sie putzen sich vor dem Spiegel heraus … Überall entdeckt die Jugend (wie sie sich selbst nennt) unter dreißig Jahren Staub und Schutt ein paar stumpf gewordene Messer, ein paar entschärfte Bomben; die Jugend schleudert sie, schlotternd vor Angst, auf den willigen Pöbel, der sie mit schmierigem Lachen begrüßt.« Der L.I.-Publizist versprach, Potlatch wisse einen Weg aus dieser Sackgasse, und erwähnte dann, welche Fragmente surrealistischer Messer und Dada-Bomben es noch gebe. Heute scheint mir, als sei die Lettristische Internationale (bloß eine Handvoll junger Leute, die sich ein paar Jahre lang unter diesem Namen zusammenschlossen, um sich gut zu amüsieren, um die Welt zu verändern) selbst eine damals unbeachtete Bombe gewesen, die Jahrzehnte später als »Anarchy in the U.K.« und »Holidays in the Sun« explodierte.
Eine solche Behauptung ist weniger eine These zu dem Thema, wie die Vergangenheit die Gegenwart formt, als ein Hinweis darauf, dass die Verquickung von heute und gestern im Grunde ein Rätsel ist. Potlatch entlehnte nämlich nach eigener Auskunft seinen Namen »der unter nordamerikanischen Indianern geläufigen Bezeichnung einer vorkommerziellen Form von auf dem Austausch aufwendiger Geschenke beruhendem Warenverkehr«; die »unverkäuflichen Waren, die beispielsweise eine kostenlose Druckschrift verteilen kann, sind bislang unveröffentlichte Wünsche und Fragen, und lediglich ihre gründliche Analyse durch andere stellt