Lipstick Traces. Greil Marcus
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Diese Story, falls es denn eine ist, erzählt sich nicht von allein; als ich ihre Umrisse gesehen hatte, wollte ich die Story so formen, dass jedes Fragment, jede Stimme ein Urteil über alle anderen abgab, auch wenn die Menschen hinter den einzelnen Stimmen noch nie voneinander gehört hatten. Besonders dann; besonders wenn, wie in »Anarchy in the U.K.«, ein Zwanzigjähriger namens Johnny Rotten eine Gesellschaftskritik neu formulierte, von Leuten erdacht, die es, wenn man ihn fragte, nie gegeben hatte. Wer wusste denn, was sonst noch zu dieser Geschichte gehörte? Wenn man, statt weiter auf die Vergangenheit zu starren, ihr stattdessen zuhörte, könnte man eventuell den Widerhall eines neuen Gesprächs hören; dann wäre der Kritiker damit beschäftigt, Sprecher und Zuhörer, die von der Existenz des anderen nichts wissen, zu einem gemeinsamen Gespräch zu führen. Aufgabe des Kritikers wäre es dann, seine Fähigkeit zu bewahren, über den Fortgang des Gesprächs überrascht zu sein und dieses Gefühl der Überraschung anderen Menschen mitzuteilen, da ein Leben mit Überraschung besser ist als ein Leben ohne.
Mein Wunsch, aus dem anfänglichen Entwurf schlau zu werden, wandelte sich zum Wunsch, aus der Verwirrung schlau zu werden, die der Entwurf umgehend bewirkte – aus kryptischen Erklärungen schlau zu werden, die ungeniert das ganze Gewicht der Geschichte für sich reklamierten, wie jene des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre aus dem Jahr 1975:
wenn der Begriff Modernität überhaupt eine Bedeutung hat, ist es diese: von Anfang an trägt er eine radikale Negation in sich … Dada, jenes Ereignis, das in einem Züricher Café stattfand.
Oder die der Situationisten aus dem Jahr 1963: »Der Moment der wirklichen Poesie … bringt die nicht beglichenen Schulden der Geschichte noch einmal ins Spiel.« War diese Zeile, so fragte ich mich, wohl ein Hinweis auf das Versprechen der Berliner Dadaisten von 1919?
dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt.
Oder auf den Reiz von »NO FUTURE«, dem berühmtesten Slogan der Sex Pistols? Auf die No-future-Kälte im Gesicht des Lettristen Serge Berna, als er 1952 für die Kamera posierte? Auf das ein paar Seiten starke Manifest eines gewissen Guy-Ernest Debord, das sich in demselben obskuren Band fand, der auch Bernas Porträtfoto enthielt: »Die Kunst der Zukunft wird der Umsturz von Situationen sein, oder sie wird nichts sein«? Oder auf die 1964 von den Situationisten hinterlassene Prahlerei:
Während die zeitgenössische Unfähigkeit sich in diesen Jahren am verspäteten Projekt weidet, »ins XX. Jahrhundert einzutreten«, muss man unseres Erachtens so bald wie möglich diesem Leerlauf ein Ende setzen, der das Jahrhundert beherrscht hat – so wie übrigens bei derselben Gelegenheit auch das christliche Zeitalter. Hier wie anderswo handelt es sich darum, das Maß zu überschreiten. Unser Unternehmen ist das Beste, was bisher gemacht wurde, um das XX. Jahrhundert zu verlassen.
Nun sind wir bei etwas ganz anderem als einem Popsong angelangt … aber ein Popsong war schließlich auch etwas ganz anderes als »I am an antichrist«. Wir sind bereits an einem Punkt, wo wir beinahe nichts Wissenswertes erfahren werden, wenn wir den Rock ’n’ Roll befragen, obwohl es sich hierbei letzten Endes um eine Rock ’n’ Roll-Story handelt. Echte Rätsel lassen sich nicht lösen, aber sie lassen sich in bessere Rätsel verwandeln.
DAS LETZTE KONZERT DER SEX PISTOLS
Seine Zähne waren nadelspitz geschliffen. Das hörte man, wenn Johnny Rotten seine Rs rollte; als der Kriegsdienstverweigerer Richard Huelsenbeck 1918 einem höflichen Berliner Publikum, das sich eingefunden hatte, um einen Vortrag über eine neue Kunstrichtung zu hören, erzählte: »Wir waren für den Krieg, und der Dadaismus ist heute noch für Krieg. Die Dinge müssen sich stoßen: es geht noch lange nicht grausam genug zu«; als 1649 der Ranter Abiezer Coppe seine Feurige Fliegende Rolle entfaltete (»So spricht der HERR, Ich sage Euch, ich werde umstürzen alles, was da besteht«); als 1961 die Situationistische Internationale eine Prophezeiung veröffentlichte, eine »Bekanntmachung an die Ruinenbauer: auf die Urbanisten werden die letzten Höhlenbewohner von Wellblechbaracken und Elendsquartieren folgen. Sie werden bauen können. Die Privilegierten der Schlafstädte werden nur zerstören können. Von einem solchen Zusammentreffen ist viel zu erwarten: es definiert die Revolution.«
Das hörte man, als Johnny Rotten seine Rs rollte; das hätte man jedenfalls hören können.
1975 VERWANDELTE
sich ein Teenager, der sich später Johnny Rotten nannte, in ein lebendes Plakat und stolzierte die Londoner King’s Road hinunter bis nach World’s End, dem Ende der Straße; auf sein mit einem Pink-Floyd-Logo bedrucktes T-Shirt hatte er »I HATE« gekritzelt. Die Reste seiner gerupften Haare hatte er grün gefärbt, und während er sich durch die Touristenmassen schob, spuckte er Hippies an, die ihn zu ignorieren versuchten. Eines Tages machte man einen Geschäftsmann auf ihn aufmerksam, der gerade eine Band zusammenstellte. Der Drummer erinnerte sich an das Vorsingen dieses Burschen, das sich vor einer Jukebox abspielte, wobei der Junge so tat, als sänge er den Text zu Alice Coopers »Eighteen« mit: »Wir dachten, er hat das, was wir wollen. Leicht irre, ein front man. Danach suchten wir: nach einem front man, der genaue Vorstellungen davon hatte, was er tun wollte, und die hatte er ohne Frage. Und wir wussten sofort Bescheid. Auch wenn er nicht singen konnte. Das interessierte uns nicht besonders, weil wir damals gerade erst lernten, auf unseren Instrumenten zu spielen.«
Möglich, dass die Sex Pistols nach den Plänen ihres selbsternannten Impresarios Malcolm McLaren, des Besitzers einer Boutique an der King’s Road, nie mehr sein sollten als ein kurzer Erfolg, ein billiges Vehikel zum schnellen Geldverdienen, gut für ein paar Lacher, für einen Touch des alten épater la bourgeoisie. Er hatte sie aus seinem Laden rekrutiert, ihnen einen Übungsraum beschafft, ihnen einen lachhaft anstößigen Namen gegeben, ihnen von der Hohlheit der Popmusik sowie den Möglichkeiten von Hässlichkeit und Konfrontation gepredigt, ihnen erzählt, sie hätten eine ebenso große Chance wie jeder andere auch, Aufsehen zu erregen, und es sei ihr gutes Recht. Falls alles andere schiefginge, könnten sie immer noch ein lebendes Schild für seinen Laden sein, der ein neues Ladenschild immer gebrauchen konnte: Bevor er sich 1977 für »Seditionaries« entschied, nannte Malcolm McLaren sein Geschäft »Let It Rock«, als er 1971 Teddy-Boy-Klamotten und alte Singles verkaufte; »Too Fast to Live Too Young to Die« 1973, als er Rockerklamotten und diverses Zubehör für Jugendgangs im Angebot hatte, »Sex« war 1974 angesagt, als Ketten, Sexpräparate sowie »God Save Myra Hindley«-T-Shirts verkauft wurden, letztere zum Gedenken an die Frau, die zusammen mit Ian Brady 1965 die Moormorde begangen hatte – Morde an Kindern, die Hindley und Brady als künstlerisches Statement auf Band festgehalten hatten. Gut möglich, dass die Sex Pistols in den Plänen ihres führenden Theoretikers und Propagandisten, des Kunststudenten der sechziger Jahre und ehemaligen sowie Möchtegern-Anarchisten und Provokateurs Malcolm McLaren, dazu bestimmt waren, das Land in Staunen zu versetzen, jene Intensität zu neuem Leben zu erwecken, die McLaren zuerst bei Jerry Lee Lewis’ Song »Great Balls of Fire« erlebt hatte (»So etwas hatte ich noch nie gesehen«, sagte er einmal, als er berichtete, wie ein Mitschüler diesen Song bei einem Talentwettbewerb seines Gymnasiums vorgetragen hatte. »Ich