Lipstick Traces. Greil Marcus
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… eine Geschichte, so Camus, von einem »sinnvollen Aufstand«. Doch Camus war nicht mehr aktuell, genauso wenig wie Kälte und Hunger oder der »Zustand ständigen Mangels und akuten Elends«, den Hannah Arendt unter »Notwendigkeit« verstand. Die Sprache wendete das Innere nach außen, so dass Kultur zum Zwang wurde, Notwendigkeit ein Luxus, Überleben eine Wohlstandssensibilität, weshalb das Glaubensbekenntnis der Überlebenskunst nicht von Notleidenden am eifrigsten aufgegriffen wurde, sondern von Rockstars. Die neue Ideologie ließ sich von Plattentiteln ablesen: Survivor, Rock and Roll Survivor, »You’re a Survivor«, I Survive, »Soul Survivor«, Street Survivors, Survival, Surviving, »I Will Survive«, und so weiter in einer endlosen Leier; und in beinahe jedem Fall handelte es sich um Produkte von Künstlern, die schon Jahre zuvor in ehrenhaftes Schweigen hätten versinken sollen, sich aber nun berechtigt sahen, ihre Produkte bis in alle Ewigkeit zu verhökern, mehr noch, dieses Verhalten als moralischen Triumph zu feiern, einen Triumph, der jeden Versuch abwertete, Abenteuer und Risiko zu suchen. Eine Garantie, an Langeweile zu sterben, gegen eine Garantie zu tauschen, nicht Hungers zu sterben, war ein gutes Geschäft – das einzige Spiel in der Stadt.
DA MAN
ihn inzwischen mit den Leuten identifizierte, die über das nötige Geld und die richtigen Firmen-Connections verfügten, um an die raffiniertesten und ausgefallensten Hilfsmittel zu gelangen, wurde der Rock ’n’ Roll zum alten Hut; eine zeitgenössische Parodie ließ einen Rockstar von seiner Plattenfirma fordern, dass sie die Aufnahme seines nächsten Albums im Weltraum finanzierte, was aber nicht wie eine Parodie wirkte. Rockmusik wurde zu einem x-beliebigen gesellschaftlichen Faktor, wie die Fahrt eines Pendlers oder der Bau einer Autobahn. Er wurde eine Angewohnheit, eine Struktur, unsichtbare Unterdrückung.
Die Sixties, schon zu ihrer Zeit eine mythische Ära, beruhten auf dem Glauben, da alles wahr sei, sei alles möglich. Unter Rockstars reduzierte sich diese utopische Ideologie in den siebziger Jahren auf einen betuchten Solipsismus. Von dem barfüßigen Solipsismus des Überlebens in Vernichtungslagern aus betrachtet, war sogar eine Widerstandsphantasie – die von Natur aus fast eine Phantasie der Kollektivität, der Solidarität sein musste – utopisch; indem sie auf der Sensibilität des Individuums als Quelle aller Werte bestanden, machten Rockstars Solipsismus zur Utopie. Wie Filmstars hatten sie so viel Geld verdient, dass sie das, was auf der Welt passierte, weder berührte noch interessierte, und ihre Vorträge über ein sorgloses und fast problemfreies Leben sprachen ein breites Publikum an. Veränderung war nicht notwendig; »Veränderung« klang mittlerweile wie ein altmodisches Sechziger-Jahre-Wort. Das in der Gesellschaft generell herrschende Chaos verlangte nach einer beständigen und beruhigenden Musik; in der Pop-Welt stand die Zeit still. Jahrelang, scheinbar jahrzehntelang, konnte man das Radio anstellen und sicher sein, James Taylors »Fire and Rain« zu hören, Led Zeppelins »Stairway to Heaven«, »Behind Blue Eyes« von den Who, Rod Stewarts »Maggie May«. Das ging in Ordnung; es waren gute Songs.
EINIGE LEUTE
verloren ihr Interesse an Überraschungen; andere hatten es nie besessen. »Die Leute bezahlen, um zu sehen, wie andere an sich selbst glauben«, schrieb 1983 Kim Gordon von der New Yorker Punk-Band Sonic Youth. »Auf der Bühne, mitten im Rock ’n’ Roll, passiert ’ne Menge, und alles kann passieren, ob die Leute als Voyeure kommen oder um sich dem Augenblick hinzugeben.« Solche Worte wären Mitte der siebziger Jahre nicht geschrieben worden, als die Leute bezahlten, um zu sehen, wie andere glaubten, dass andere an sie glaubten. Wenn damals Konzerte zu Ende waren, standen die Fans auf, zündeten Streichhölzer an und hielten sie hoch: Sie beteten.
Man schrieb 1974. Malcolm McLaren hielt sich kurz in den USA auf und managte die New York Dolls, die damals in den letzten Zügen lagen. Sie waren in seinen Laden spaziert und hatten ihm ihre Platten vorgespielt; er hatte gelacht. »Ich konnte nicht fassen, wie jemand so schlecht sein konnte«, sagte er viel später, als er erzählte, in diesem Moment sei ihm die Idee für die Sex Pistols gekommen. »Dass sie so schlecht waren, überfiel mich mit solcher Macht, dass mir plötzlich klar wurde: ›Ich lache, ich rede mit diesen Burschen, ich sehe sie an, und ich lache mit ihnen.‹ Und plötzlich war mir egal, ob jemand gut spielen konnte. Ob man über Rockmusik auch nur so weit Bescheid wusste, dass man Songs richtig schreiben konnte, war nicht mehr wichtig … Die Dolls brachten mir zu Bewusstsein, dass es noch etwas anderes gab. Es war etwas Großartiges. Mir fiel auf, wie genial sie waren, um so schlecht zu sein.«
Zweifellos spielte McLaren ein Jahr später den Sex Pistols Dolls-Platten vor, so wie Sam Phillips zwei Jahrzehnte zuvor seinen neuen Rockabilly-Sängern alte Blues-Platten vorgespielt hatte. Ein von McLaren bemaltes und bei den letzten Gigs der Dolls aufgehängtes Transparent hielt die tote Zeit fest, der sie nie entkommen waren: »WHAT ARE THE POLITICS OF BOREDOM?« Was ist die Politik der Langeweile?
ES WAR
ein situationistischer Slogan zweiten Grades. »Langeweile ist immer konterrevolutionär«, hatten die Situationisten gern behauptet. McLarens Fragezeichen war seine Art zu fragen, wie viel heimliche Macht in den Slogans steckte, denen er so große Bedeutung beimaß; um die Antwort zu finden, musste man die Slogans benutzen. »Langeweile ist immer konterrevolutionär« – dieser Satz war typisch für den Stil der Situationisten, für ihren Ton, ein Paradoxon aus toter Rhetorik und Umgangssprache, das kurz vor der Unlogik haltmachte, eine sich noch während man sie hörte in eine Frage verwandelnde Aussage: Was heißt das?
Man weiß es bereits, die Situationisten hatten die Antwort gegeben: Uns fehlt lediglich das Bewusstsein dessen, was wir wissen. Unser Projekt ist nichts weiter als eine verführerische, subversive Neuformulierung des Offensichtlichen: »Unsere Vorstellungen sind in allen Köpfen.« Unsere Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert, warum sie verändert werden muss, sind in allen Köpfen, und zwar als Gefühle, die in Ideen zu übersetzen niemand bereit ist, daher übernehmen wir die Übersetzung. Mehr müssen wir nicht tun, um die Welt zu verändern.
Für den Situationisten war Langeweile ein höchst modernes Phänomen, eine moderne Form von Kontrolle. Während der Feudalzeit und während des ersten Jahrhunderts der industriellen Revolution führten stumpfsinnige Plackerei und Entbehrung zu abstumpfender Erschöpfung und schrecklichem Elend, nichts Rätselhaftes, nur eine gottgegebene Tatsache: »Mit Adams Fall haben wir alle gesündigt«, und was die betraf, die weder Erschöpfung noch Elend kannten, so war es für ein Kamel leichter, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in den Himmel zu kommen. Nach Ansicht der Situationisten produzierten Modernität, verringerte Arbeitszeit und relativer Überfluss, Stadtplanung und der Wohlfahrtsstaat nicht Glück, sondern Depression und Langeweile. Da Gott fehlte, empfanden die Menschen ihren Zustand nicht als gottgegeben, sondern nur als schicksalhaftes Ereignis bar jeder Bedeutung, das jeden Mann und jede Frau von allen anderen trennte, wodurch alle Menschen wieder auf sich selbst zurückgeworfen wurden. Ich bin nicht glücklich – was stimmt mit mir nicht?
Fatalismus ist Hinnahme; »Que sera, sera« ist immer konterrevolutionär. Doch wie die Situationisten die moderne Welt verstanden, war Langeweile weniger eine Frage der Arbeit als der Freizeit. Als sie sich in den fünfziger Jahren aufmachten, schien die Arbeit ihre Kontrolle über das Leben einzubüßen; »Automatisierung« und »Kybernetik« waren schöne neue Wörter. Die Freizeit gewann an Bedeutung, und um an der Macht zu bleiben, mussten die Herrschenden, ob kapitalistische Direktoren im Westen oder kommunistische Bürokraten im Osten, dafür sorgen, dass die Freizeit so langweilig war wie die neuen Arbeitsformen; sogar langweiliger, wenn Freizeit die Arbeit als Zentrum des Alltagslebens ersetzen sollte, tausendmal langweiliger. Was könnte mit größerer Gewissheit einen isolierten, hoffnungslosen Fatalismus erzeugen als das Gefühl, ausgerechnet