Lipstick Traces. Greil Marcus
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Wer wollte behaupten, »Fire and Rain«, »Stairway to Heaven«, »Behind Blue Eyes« und »Maggie May« wären nicht im Namen der Freiheit geschrieben und zur Unterdrückung benutzt worden? Nur wer nicht glauben wollte, dass die Affirmation, bei der man die Freiheit beim Schopf ergreift, auf einer Negation wurzelt, in der man einen Blick auf die Freiheit erhascht … aber zu diesen Leuten gehörten McLaren und die Sex Pistols nicht. Daher verdammten sie Rock ’n’ Roll als faulenden Leichnam, als Ungeheuer der begüterten Reaktion, als einen Mechanismus für falsches Bewusstsein, als System der Selbstausbeutung, als Theater talmihafter Unterdrückung, als langweilig. Rock ’n’ Roll, verkündete Johnny Rotten, sei nur das erste von vielen Dingen, die die Sex Pistols vernichten würden. Doch weil die Sex Pistols keine anderen Waffen hatten, weil sie nicht anders konnten, als Fans zu sein, spielten sie Rock ’n’ Roll, reduzierten ihn wie niemand vor ihnen auf die Grundelemente Geschwindigkeit, Lärm, Zorn und irrwitzige Ausgelassenheit.
Anonymes, situationistisch beeinflusstes Flugblatt, London, frühe achtziger Jahre
Sie benutzten den Rock ’n’ Roll als Waffe gegen sich selbst. Da alle Instrumente außer Gitarre, Bass, Schlagzeug und Stimme als läppische, elitäre Ausstattung eines perfektionistischen Techno-Kultes verworfen wurden, eignete sich diese Musik am besten für Wut und Frustration, sie konzentrierte sich auf das Chaos, dramatisierte die letzten Tage als Alltag, presste alle Emotionen in die schmale Lücke zwischen einem leeren Blick und einem sardonischen Grinsen. Der Gitarrist sorgte für ein Sperrfeuer, um dem Sänger Deckung zu geben, die Rhythmusgruppe setzte beide unter Druck, und als Reaktion auf die plötzlich empfundene totalitäre Kälte der modernen Welt wirkte die Musik wie eine Version dieser Kälte. Außerdem war sie etwas Neues unter der Sonne: ein neuer Sound.
ES IST DER ÄLTESTE
Hype im Buch – und auf dieser Seite ist kein Platz für Fußnoten. Nach dreißig Jahren Rock ’n’ Roll gibt es jede Menge Fußnoten: Platten, Sammlerstücke, die einem Hörer erlauben, in der Zeit rückwärts zu reisen, ein Aufnahmestudio zu betreten, das es nicht mehr gibt, und den neuen Sound zu hören, wie er gerade entdeckt, verpatzt oder gar verworfen wurde. Es ist ein aufschlussreiches Erlebnis.
Als der Bluesman Sonny Boy Williamson und sein weißer Produzent 1957 in Chicago versuchten, den Song »Little Village« aufzunehmen, stritten sie darüber, was genau ein kleines Dorf ausmacht; der Streit endet damit, dass Williamson brüllt: »Little village, Motherfucker! Nenn’s doch nach deiner Mami, wenn du willst!« Diese Fußnote erklärt, warum Williamson einen Großteil des Songs mit der Erörterung zubringt, was ein Dorf von einem Weiler, einer Kleinstadt oder einer Stadt unterscheidet; es erklärt außerdem einiges davon, wie sich die Beziehung zwischen Herr und Sklave entwickelte. 1954 in Memphis bestand die Reaktion des Gitarristen Scotty Moore auf eine langsame, sinnliche, frühe Aufnahme von »Blue Moon of Kentucky« darin, den neunzehnjährigen Elvis Presley einen »Nigger« zu nennen; drei Jahre später geraten Jerry Lee Lewis und Sam Phillips am selben Ort in einen wüsten Streit über die Frage, ob Rock ’n’ Roll eine Musik der Erlösung oder der Verdammnis sei. Diese Momente erklären einen Großteil der amerikanischen Kultur.
1959 stimmt in New Orleans der später als Paradebeispiel für den weißen Schönling, der authentische schwarze Rocksänger ins Abseits drängte, verschriene Jimmy Clanton seinen verabscheuungswürdigsten Hit an, »Go, Jimmy, Go«. Er hält inne. »Bob bop bop ba da da«, trällert er in Richtung Aufnahmepult. »Singe ich schon mickymausmäßig genug?« »Noch ein bisschen mehr!« lautet die Antwort. »Geez, ich bin doch nicht Frankie Avalon«, erwidert Clanton, kurz bevor er sich in Frankie Avalon verwandelt. Das zeigt, dass Clanton das Herz auf dem richtigen Fleck hatte.
In Chicago will sich Chuck Berry gerade erneut an »Johnny B. Goode« versuchen. »Dritter Versuch!« ruft der Produzent. »Diesmal muss es klappen!« Berry und seine Band legen sich ins Zeug, doch die Anfangspassage – in der Version, die in die Charts kam, der großartigste explosive Anfang im Rock ’n’ Roll – kommt nicht. Die Struktur ist da, die Akkorde, die Noten, alles, was man auf einem Notenblatt notieren konnte, doch die Musik leidet unter einer seltsamen Trägheit, einem Zögern, man geht auf Nummer Sicher. Dann wechselt man die Platte und hört sich »Johnny B. Goode« an, wie es seit 1958 im Radio gespielt wird: Die Noten und Akkorde sind zu einem Fakt geworden, der alle Fußnoten obsolet macht. Sie treffen ins Schwarze.
Man kann sich auch das Doppelalbum The Great Rock ’n’ Roll Swindle anhören, eine Dokumentation von Aufstieg und Fall der Sex Pistols, von Malcolm McLaren orchestriert, um zu beweisen, dass die von ihm und der Band durchlebten hektischen Abenteuer zu einem Plan gehörten, den er schon lange vorher in der Schublade hatte. Diese Sammlung von Fußnoten will die Idee vermitteln, dass die Geschichte der Sex Pistols, dieser runtergewürgte Brocken gesellschaftlichen Lebens im Hals eines sich Antichrist nennenden gekrümmten Burschen, von Anfang an als bloßer Bluff geplant war, als McLarens kleiner Scherz auf Kosten der Welt. Wenn es Johnny Rotten wirklich ernst war, als er in »God Save the Queen« »We really mean it, man!« schimpfte, ging der Scherz auf seine Kosten oder auf die von jedem, der ihm Glauben schenkte.
Der Versuch ist nicht übel. Das 1979, ein Jahr nach dem Ende der Sex Pistols, veröffentlichte The Great Rock ’n’ Roll Swindle enthält eine schwerfällige »God Save the Queen Symphony« mit albernen verbindenden Texten, diversen deprimierenden Post-Sex-Pistols-Ergüssen des bald verblichenen Sid Vicious, ein im Stil von Michel Legrand arrangiertes und von einer Person namens Jerzimy ausschließlich französisch gesungenes »Anarchy in the U.K.«, und ein Medley aus Pistols-Hits von einer ausgelassenen Discogruppe. Das französische »Anarchy« wie die Disco-Nummern sind recht ansprechend: Auf die Idee, »Pretty Vacant« als Fahrstuhlmusik zu vertonen, muss man erst mal kommen. Doch McLarens Versuch, die Sex Pistols als Schwindel zu entlarven (das Geheimnis im Herzen der Geheimgesellschaft entpuppt sich als endlose, bemüht witzige Geschichte), scheitert an einigen echten Sex-Pistols-Stücken auf dem Doppelalbum: »Belsen Was a Gas« von ihrem letzten Auftritt in San Francisco, eine heisere Alternativfassung von »Anarchy«, Cover-Versionen des Who-Titels »Substitute« und des Stücks »Stepping Stone« von den Monkees sowie eine Kombination von »Johnny B. Goode« und Jonathan Richmans »Roadrunner«. Die letzte Nummer klingt wie eine Probe – nicht für eine Plattenaufnahme oder ein Konzert, sondern für die Idee der Sex Pistols an sich. Man hört, wie sie auf die primitivste Rock ’n’ Roll-Stimme zurückgreifen, um die geschniegelte Selbstparodie zu zerstören, zu der man Rock ’n’ Roll gemacht hatte. Gleichzeitig hört man, wie sie die Musik ganz neu erfinden.
»›SEX PISTOLS‹ hieß für mich so viel wie eine Pistole, ein Pin-up, ein junges Ding. Ein besser aussehender Attentäter.«
Malcolm McLaren, 1988
Die Band steigt in »Johnny B. Goode« ein, aber Johnny Rotten kennt den Text nicht oder will ihn nicht singen; nach »Deep-down-in-Lweezeeanna« bringt er bloß noch Krächzen, Spucken und Quietschen zustande. »O fuck, es ist scheußlich«, stöhnt er, doch die Musiker lassen nicht locker und übernehmen den Song. »Ich hasse solche Songs«, verkündet Rotten. »Hört auf, hört auf! Das ist Folter!« Da die Band nicht abbricht, brüllt er sie schließlich nieder: »AAAAAAAAAAAAAH!« Sie werden langsamer. »Können wir nicht was anderes machen?« fragt er hoffnungsvoll, und dann dringt »Roadrunner« aus seinen Synapsen. Die Assoziation stimmt: »Johnny B. Goode« wie »Roadrunner« sind elementare Rock-Statements, ersteres ein Mythos der Rock-Gründerzeit, die Geschichte eines Jungen vom Lande, dessen Gitarrenspiel wie Glockenläuten klang, letzteres hauptsächlich ein Bericht darüber, wie man ihm beim Gitarrespielen