Lipstick Traces. Greil Marcus
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Minima Moralia wurde als eine Reihe von Sentenzen, von Reflexionen verfasst, jeder einzelne monolithische Absatz marschierte unaufhaltsam in Richtung Zerstörung jeder Spur von Hoffnung, die er enthalten mochte, jedem Absatz war ein ohnmächtiger Fluch vorangestellt, blanke Ironie, jeder einzelne (beliebig ausgewählte) ein guter Titel für eine Punk-Single: »Bangemachen gilt nicht«, »Schwarze Post«, »Lämmergeier«, »They, the people«. Nach 1977 hätte man ein Sprech-Brüll-Album mit dem Titel Big Ted Says No veröffentlichen können, was popmäßig betrachtet durchaus in sich schlüssig gewesen wäre, und wenn man so will, geschah dies auch: Man höre sich Metal Box von PiL, Johnny Rottens Band nach den Sex Pistols, an, lese dabei Minima Moralia und versuche herauszufinden, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
Lora Logic, 1979
Adornos Negation fehlte der sardonische Spaß – ein Wesenszug, den die Punk-Version seiner Welt nie vernachlässigte. Als sie als Pose und Mode die Straße eroberten, wurden Adornos Vorhersagen von Freude erfüllt, was sie einfach und klar machte: »I am the fly«, sangen Wire im Roxy, »I am the fly / I am the fly in the ointment.« Die Kritik der Frankfurter Schule hatte 1977 mächtig Rost angesetzt, weniger weil sie von der Geschichte oder besseren Ideen widerlegt worden wäre, sondern vielmehr, weil sie sich in einen nervtötenden Jingle verwandelt hatte, da sie in den sechziger Jahren an der Spitze zu vieler Charts von Kunststudenten und radikalen Studenten gestanden hatte: Das gesamte gesellschaftliche Leben ist / Hierarchisch durchorganisiert / Undurchdringlich abgeschottet / Um dich in ein Gefäß / Für die Kultur zu verwandeln / Die dich zum Funktionieren / Als Roboter in der Wirtschaft verführen wird. Neu war die Wirkung des Jingles, sein neuer Sound. Jetzt hatte man einen Namen dafür und konnte ihn in Anspruch nehmen. Fragmente einer vor deiner Geburt aufgestellten Theorie kamen aus dem Straßenpflaster und schlugen dir ins Gesicht, als wärest du kopfüber auf den Beton gestürzt. Dein Gesicht war eine Totalität, im Spiegel ein Abbild der Totalität, die du als einzige kanntest, und der Schock des Erkennens veränderte dein Gesicht … jetzt gingst du die Straße entlang, mit eingefrorenem Mund, der für Passanten wie eine Todesstrafe aussah, sich aber für dich wie ein Lächeln anfühlte. Weil dein Gesicht deine Totalität war und der Schock es verändert hatte, veränderte der Schock die Straße. Hattest du erst mal den Nachtclub verlassen und das Pflaster betreten, strotzte jedes farblose öffentliche Gebäude nur so von geheimen Botschaften der Aggression, Beherrschung, Bosheit.
UM MIT
dieser Vision von Hässlichkeit fertigzuwerden, lebte man sie aus. Heute, nach über einem Jahrzehnt Punkstil, wenn ein grünlila Irokesenhaarschnitt auf dem Kopf eines amerikanischen Halbwüchsigen aus der Vorstadt nur die Frage aufwirft, wie früh er oder sie aufstehen muss, um seine oder ihre Frisur rechtzeitig vor der Schule fertigzustellen, kann man sich kaum noch vorstellen, wie hässlich die ersten Punks waren.
Sie waren wirklich hässlich. Zwischentöne gab es keine. Eine zwanzig Zentimeter lange Sicherheitsnadel, die sich durch eine Unterlippe in ein auf die Wange tätowiertes Hakenkreuz bohrte, war kein modisches Statement; ein Fan, der sich den Finger in den Hals rammte, sich in die Hände kotzte und anschließend das Erbrochene in Richtung der Leute auf der Bühne schleuderte, verbreitete ansteckende Krankheiten. Ein zwei Zentimeter breiter Heiligenschein aus Maskara erinnerte eher an Tod als an irgendwas anderes. Die Punks waren nicht nur gutaussehende Menschen wie die Slits oder die Adverts-Bassistin Gaye, die sich erst hässlich machten. Sie waren fett, magersüchtig, pockennarbig, picklig, sie stotterten, waren verkrüppelt, narbig oder beschädigt, und ihre neuen Verzierungen unterstrichen lediglich das bereits in ihre Gesichter eingegrabene Scheitern.
Die Sex Pistols hatten ihnen irgendwie ermöglicht, in der Öffentlichkeit als menschliche Wesen zu erscheinen und ihre Gebrechen als gesellschaftliche Tatsachen zur Schau zu stellen. »I was waiting for the Communist call«, sang Johnny Rotten unterwegs zur Mauer in »Holidays in the Sun«. Von derselben westlichen Seite der Mauer stellt in Peter Schneiders 1982 erschienenem Buch Der Mauerspringer der Erzähler, durch die ideologisch konträren Nachrichten im Ost- bzw. West-Berliner Fernsehen völlig verwirrt, die gleiche Frage wie Punk: »Gründet sich nicht jede Karriere in der westlichen Gesellschaft, gleichgültig, ob es sich um die eines Sportlers, Unternehmers, Künstlers oder Rebellen handelt, auf den überzeugt vorgeführten Gestus, dass jede Initiative die eigene, jede Idee selbst erfunden, jede Entscheidung eine ganz persönliche ist? Was würde ich anfangen, wenn ich aufhören würde, die Schuld im Prinzip eher bei mir als beim Staat zu suchen, wie ich es gelernt habe?« Eher noch als Mülltüten oder zerrissene Hemden trugen die Punks Adornos morbiden Ausschlag; den trugen sie gemustert mit Filzstift oder Schablone überall an sich auf. Wie Adornos präparierte Leichen, bewusster präpariert, als er sich vorgestellt hätte, explodierten sie mit Beweisen ihrer Vitalität – anders formuliert, sie sagten, was sie meinten.
»DAS TELEFON klingelte ununterbrochen«, sagte Feuerwehrhauptmann Donald Pearson, 31. »Die Leute riefen aus dem ganzen Bundesstaat an. Jetzt verstehen wir den Begriff ›Medienereignis‹.« Pearson sagte: »Der denkwürdigste Augenblick der Woche war, als wir den Baum durchsägten und die Bienen rauskamen. 30 oder 40 Reporter und Fotografen standen herum, und einige suchten das Weite.« Die Feuerwehrleute sagten, [Feuerwehrmann] Racicot habe die Killerbienen am besten beschrieben.
»Die Killerbienen sind die mit den Lederjacken und den Punkfrisuren«, sagte er. »Man kann sie nicht übersehen.«
San Francisco Examiner, 28. Juli 1985, über das erste Auftauchen von »Killerbienen« in Kalifornien
Damit warfen sie Adornos Vision des modernen Lebens auf sich selbst zurück: Adorno hätte sich nicht vorgestellt, dass seine Leichen wüssten, was sie sagen wollten. Punks verstanden sich als die, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt; so wie Punk die Nicht-Zukunft definierte, würde die Gesellschaft eine Menge Zombie-Gegenbilder brauchen, Einkäufer, Bürokraten, Fürsorgeempfänger, eine Menge Leute, um sich in Schlangen anzustellen und sie zu füllen. Der Unterschied war, dass diese Leute die Nachricht gehört hatten.
»ICH WÜNSCHTE,
ich könnte uns sehen«, bekannte Steve Jones, Gitarrist der Sex Pistols. Vielleicht hatte Johnny Rotten das gemeint, als er sagte, er wolle »mehr Bands wie uns«. Die bekam er – Dutzende von Gruppen, dann Hunderte, dann Tausende, die ein paar Wochen nach ihrer Gründung (oder, wenn man nach dem Sound einiger Scheiben ging, vor ihrer Gründung) eigene Singles aufnahmen, sie auf allein zu diesem Zweck gegründeten Labels mit Namen wie Raw, Frenzy oder Zero herausbrachten und bei Konzerten, in unabhängigen Plattenläden oder per Postversand verkauften. Die meisten waren nie für den Rundfunk bestimmt. Wie als Antwort auf