Lipstick Traces. Greil Marcus

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Lipstick Traces - Greil Marcus

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sie für keinen Radiosender in Frage kam. In der Annahme, die normalen Kanäle der Pop-Vermittlung seien irrelevant, kümmerte man sich überhaupt nicht mehr darum, was auf eine Platte oder in einen Auftritt gehörte, wie eine Platte klingen oder wie ein Auftritt aussehen sollte. Männer konnten Machogehabe anlegen oder es zu lachhaften Extremen treiben, Frauen konnten die wenigen Frauen im Rock vorbehaltenen Rollen ignorieren … sie konnten Rollen ganz und gar ignorieren.

      Wie im Krieg nur die im Untergrund erscheinende Presse frei ist (»Die einzige große Nation mit einer völlig unzensierten Presse«, schrieb A. J. Liebling zwei Monate vor der alliierten Landung in der Normandie, »ist heute Frankreich«), so gelang es dem Punk, seinen eigenen Freiraum zu schaffen, da ihm der offizielle Popbereich weitgehend verschlossen blieb. Auch wenn die bekanntesten Bands im Handumdrehen bei großen Plattenfirmen unterschrieben, war dieses halbe Dutzend für die Hunderte und Tausende draußen in der Pop-Wildnis unwichtig; dort entstand nach und nach eine Art neue Pop-Wirtschaft, die weniger auf Profit als auf Überleben, auf dem Willen zu schockieren, auf marginaler, aber intensiver öffentlicher Reaktion beruhte – eine Pop-Wirtschaft, die nicht Karrieren fördern sollte, sondern überfallartige Attacken auf den öffentlichen Seelenfrieden. Wenn jemand Platten aufnahm, dann weniger auf die verschwindend geringe Chance hin, dass sie erfolgreich sein würden, als um dabei zu sein, um »Hier bin ich« oder »Ich hasse dich« zu sagen, »Ich habe einen großen Schwanz« oder »Ich habe keinen Schwanz«. Halbwüchsige entdeckten, wie aufregend es war, in einem vollen Kino »FEUER« zu rufen … oder auch in einem leeren Kino.

      Es war eine Mode, etwas, das man tat, wenn man die Erlaubnis der Eltern bekam, noch spät wegzugehen und sich eine andere Frisur zuzulegen (man verriet den Eltern nicht, dass man sich einen anderen Namen zugelegt hatte und nicht mehr Elizabeth Mitchell, sondern Sally Contergan hieß). Eine zeitgenössische Satire gab die Mode recht treffend wieder, erfasste die achtlose Typographie und den syntaktischen Analphabetismus der die Botschaft verbreitenden Fanzines:

      x … erzähl mal, wolf, wie gings mit snuff rock, also dieser ganzen abkratz-rock-szene eigentlich los?

      wolf frenzy … tja … also … ziemlich schwierig zu sagen, aber es war wohl an dem abend, als sich der bassist bei dem krach um die ecke brachte. er war stinksauer weil er aus seinem equipment einen echt geilen sound rausgeholt hatte, darum ist er oben von seinem lautsprecherturm runtergesprungen, hat sich den hals gebrochen und sich auf den stimmwirbeln aufgespießt. da gabs dann aus dem publikum eine echt spontane reaktion.

      x … was für eine reaktion war das?

      wolf frenzy … tja … nun ja … alle haben gelacht und so.

      x … was hältst du von den sogenannten seuchengruppen wie den boils, pus oder superdischarge, die sich nicht gleich umbringen, sondern sich lieber mit tödlichen krankheiten anstecken und dahin dahinsiech dahi mit jedem gig kränker werden bis sie sterben.

      frenzy … tja hängt davon ab. ist ein interessantes konzept das jedenfalls einen harten kern fans anzieht. die verpassen ungern einen gig weil sie gern mitansehen welche fortschritte die krankheit macht. einige leute reisen hunderte kilometer weit bloß um zu sehen wie irgendwem n finger abfällt. aber es hängt wirklich von der krankheit ab, soll heißen einer mit tollwut kriegt nen echt hochenergie-gig, jede menge rumgehopse während einer mit gelbfieber einfach zu locker ist, wie j.j.cale. mich interessiert mehr der sound, der aus jamaika kommt, weißt du wie natty dead, i dub a snuff oder snuffin in a soundcheck, so ne sachen.

      x … was hältst du von der meldung, dass andy williams in seiner neuen fernsehserie angeblich sein abkratzen simulieren will.

      frenzy … ist doch einfach erbärmlich hab ich recht. genau was man von ihm erwartet hätte. aber das ist eine szene die man nicht glätten und wieder an die kids verkaufen kann die sie erfunden haben weil die alle tot sind. aber elitär sind wir nicht. wir würdn liebend gern erleben, daß ein paar von den wirklich großen stars wie rod stewart oder elton john abkratzen.

      x … da seid ihr wohl nicht die einzigen.

      Es war eine Mode, also schaffte man das Liebeslied ab; auf der Hülle des Albums Songs for Swinging Lovers von den Radio Stars baumelte ein junges Paar von einem Baum. Stattdessen sang man über Masturbation, Jobs, Klassen, Zigaretten, Ampeln, faschistische Diktatoren, Rasse, die U-Bahn. Indem sie den Lovesong abschafften, entdeckten die Leute, worüber man sonst noch singen konnte. Der Lovesong hatte ihre Leben in billige Poesie gehüllt; vielleicht konnten jetzt andere Dinge ihre Leben poetischer machen. Als Anhänger einer Mode spielten Punks mit Adornos negativer Dialektik, bei der sich jedes Ja in ein Nein verwandelt; sie hielten es mit beiden Seiten ihrer instabilen Gleichungen. Die Mutter von Paul Cook, dem Drummer der Sex Pistols, erfand den Namen Johnny Rotten, weil der Sänger so grüne Zähne hatte; als Marianne Joan Elliott-Said anfing, über Werbung, Deodorants, getürkte Identitäten oder Supermärkte zu singen, änderte sie ihren Namen in Poly Styrene und nannte ihre Band nach ihrer Lieblingsbrillensorte X-Ray Spex. »Anti-art was the start«, mit Anti-Kunst fing es an, brüllte sie mit ihrer Ein-Noten-Stimme. Ein Interviewer wollte wissen, was ihr Anliegen sei. »Ich konsumiere gern«, antwortete sie, »wenn man es nämlich nicht tut, konsumiert es dich.« Keiner wusste, was das bedeutete oder ob »Poly Styrene« – zu Deutsch: Polystyrol – gut oder schlecht, Ironie oder Akzeptanz war, ein Angriff auf verbesserte Lebensqualität dank Chemie oder ob es einfach bloß hieß, dass Poly gerne Plastikklamotten trug.

      Das war Punk: ein Haufen alter Ideen zu neuen Gefühlen aufgemotzt, die sich umgehend in neue Klischees verwandelten, aber eine solche Dynamik erreichten, dass das Ganze Tag für Tag seine Gleichungen zum Einsturz brachte. Für jede Pseudo-Neuheit gab es eine echte. Für jede Pose aus dritter Hand gab es eine andere aus vierter Hand, die sich zu einem echten Motiv mauserte.

       PUNK SCHOCKIERT

      nicht mehr durch Rüpelhaftigkeit, Misogynie, Rassismus, Homophobie, weder durch seinen Drang nach Endlösungen für Fragen, die er kaum gestellt hat, noch dadurch, dass die Negation jede Heuchelei und jeden Schwindel sanktioniert. »Die Punk-Attitüde«, schrieb Lester Bangs 1979, sei »durchsetzt von Selbsthass, der immer reflexiv ist, und immer, wenn man zu dem Schluss kommt, das Leben sei Mist und die Gattung Mensch größtenteils ein Haufen Scheiße, hat man den idealen Nährboden für Faschismus«. 1977 in London gab es eine Zeit, da galt Jack the Ripper als der Punk schlechthin, und alles von Schlägereien bis Vernichtungslagern gehörte irgendwie dazu; als die Eaters »Get Raped« schäumten, schien das ebenso wahr zu sein wie die verschmitzte Gleichsetzung von Ladendiebstahl und Flirt durch die Buzzcocks in »Breakdown«. All diese Dinge wurden kurzzeitig legitimiert durch eine Bewegung, die alles vereinnahmte, was von der Gesellschaft offiziell abgelehnt und stigmatisiert wurde.

      Heute, so viele Jahre später, schockiert Punk dadurch, dass jede gute Punk-Platte immer noch wie das Größte klingt, was man je gehört hat. »A Boring Life«, »One Chord Wonders«, »Oh Bondage Up Yours« von den X-Ray Spex, die Singles der Sex Pistols, »Complete Control« von den Clash – die Kraft dieser kleinen Plastikteile, die Spannung zwischen den sie treibenden Sehnsüchten und dem Fatalismus, der darauf wartete, jeden Beat abzublocken, das Lachen und die Überraschung in den Stimmen, das alles schockiert heute, weil jedes Stück während seiner zwei oder drei Minuten absolut ist. Man kann keine Platte über die andere stellen, nicht beim Zuhören; jede einzelne ist das Ende der Welt, die Schöpfung der Welt, in sich vollendet. Jede zwischen 1976 und 1977 in London gemachte gute Punk-Platte kann einen überzeugen, nie etwas Besseres gehört zu haben, weil sie überzeugen kann, dass man nie etwas anderes zu hören braucht, solange man lebt. Jede Platte scheint alles zu sagen, was es zu sagen gibt. Solange der Sound anhält, dringt kein anderes Geräusch durch, nicht einmal die Erinnerung an andere Musik.

      Um John Peel zu zitieren, es war wie in

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