Lipstick Traces. Greil Marcus

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Lipstick Traces - Greil Marcus

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      war nicht vollkommen leer. Da stand dieses Schild, und an dem Schild hing ein Faden, mit dem man die Welt auf den Kopf stellte, wenn man an ihm zog. Als die Leute im Roxy die Adverts hörten oder die beiden Mädchen und drei Jungen, die sich X-Ray Spex nannten, oder den jugendlichen Beckett-Fan mit schütterem Haar, der für die Buzzcocks sang – allesamt Leute, die sich aus dem Publikum der ersten Sex-Pistols-Konzerte rekrutierten –, kam es zu einer Umkehrung der Perspektive, der Werte; es entstand ein Gefühl, dass alles möglich war, eine Wahrheit, die sich nur in der Negation beweisen ließ. Was gut gewesen war – Liebe, Geld und Gesundheit –, war jetzt schlecht; was schlecht gewesen war – Hass, Bettelarmut und Krankheit –, war jetzt gut. Und so gingen die Gleichungen weiter, Arbeit wurde durch Faulheit ersetzt, Status durch Verkommenheit, Ruhm durch Verrufenheit, Berühmtheit durch Obskurität, Perfektion durch Ignoranz, Höflichkeit durch Beleidigung, flinke Finger durch Klumpfüße, und die Gleichungen lagen nicht fest. In dieser Welt, wo Selbstmord auf einmal dafür stand, dass man meinte, was man sagte, konnte nichts angesagter sein als eine Leiche, doch die wohlhabenden Überlebenden, die man täglich auf den Straßen sah, während man am Tag zuvor noch Eintritt zahlen musste, wenn man sie in den Konzertsälen sehen wollte, waren wandelnde Leichen. Punk schlüsselte die Gleichung mit der instinktiven Besorgnis eines alten Argumentes auf: »Diagnostizieren lässt die Krankheit der Gesunden sich einzig objektiv«, schrieb Theodor Adorno dreißig Jahre früher in Minima Moralia, »am Missverhältnis ihrer rationalen Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens. Aber die Spur der Krankheit verrät sie doch: sie sehen aus, als wäre ihre Haut mit einem regelmäßigen Ausschlag bedruckt, als trieben sie Mimikry mit dem Anorganischen. Wenig fehlt, und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen, für präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt.« Mit anderen Worten, der einzige gute Überlebende war ein toter Überlebender.

      Da Helden Schwindel waren und Armut Reichtum bedeutete, waren sowohl Mörder als auch Missgeburten privilegiert; hätten die Mörderin Myra Hindley oder der Glöckner von Notre-Dame das Roxy betreten, wären sie von der Menge auf die Bühne gejubelt worden. Unterhaltung wurde zu Langeweile und Langeweile zum kategorischen Imperativ, zum Zerstörer aller Werte, genau das, was der neue Entertainer, der seine Künstlichkeit als Zeichen von Authentizität vorwies, in etwas anderes verwandeln musste: eine Stunde lang, für die Dauer eines einzigen Songs, für einen Augenblick während dieser Zeit, in die Quelle von Werten.

      Mäntel waren nicht mehr angesagt, also zogen sich die Leute Risse und Löcher an, Sicherheitsnadeln und Heftklammern durch Fleisch wie Kleidung, sie wickelten ihre Beine in Abfallsäcke aus Plastik und Mülltüten, drapierten Vorhangreste und weggeworfene Sofastoffe um die Schultern. Nach dem Vorbild von McLarens Entwürfen für die Sex Pistols und die Clash malten sich die Leute Parolen auf Ärmel und Hosenbeine, quer über Jacken, Schlipse und Schuhe: Die Namen ihrer Lieblingsbands und -songs, Schlagwörter wie »ANARCHY« oder »RIOT«, geheimnisvollere Sätze (»WHERE IS DURUTTI?«, »YOUR ON THE NEVER NEVER«) oder lärmende, zerhackte Zeitgeist-Phrasen: »WE AN’T PROUD PUNKS ONE big MESS, like something else SCHOOL’S A RIP OFF straights out of it all, everywhere if you don’t we will include ¼«, das Ganze mit einem riesigen X durchgestrichen.

      »Damals gab es in ganz England bestimmt nicht mehr als hundert echte Punks«, sagte Lora Logic, Anfang 1977 Saxophonistin von X-Ray Spex, 1980 über den ersten Auftritt der Gruppe; das zentrale Wort war »echte«. Es gab kein Zuhause mehr, also verließ Lora ihres … ließ die rosafarbene Uniform zurück, die sie auf ihrer guten Privatschule getragen hatte, was, wie sie zu spät merkte, ein Fehler war, weil sie auf der Bühne prima gewirkt hätte. Mit ihr zusammen veränderten die übrigen »echten Punks«, mehr als hundert, die zwei oder drei, die es Anfang 1977 in jeder britischen Stadt gab, das Bild des gesellschaftlichen Lebens.

      Punk begann als Pseudokultur, als Produkt von McLarens Gespür für Mode, von seinem Hunger nach Ruhm, seiner Eingebung, dass die Vermarktung sadomasochistischer Phantasien das nächste große Ding sein könnte. »Die Kunst des Kritikers in nuce«, schrieb Walter Benjamin 1925–26 in Einbahnstraße: »Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu verraten. Schlagworte einer unzulänglichen Kritik verschachern den Gedanken an die Mode.« Das war Benjamins sorgfältiger Absolutismus … die Prä-Pop-, Anti-Pop-Überzeugung, man könne nicht beides zugleich haben. Diesen Absolutismus hätte ein anarchistischer Goldgräber wie McLaren nie teilen können, er brauchte es auch nicht. In einem durch die Schwächung der Popszene geformten Milieu, bei erdrückender Jugendarbeitslosigkeit, sich von Belfast nach London ausbreitendem IRA-Terrorismus, wachsender Straßengewalt zwischen britischen Neonazis, farbigen Engländern, Sozialisten und der Polizei wurde Punk zu einer echten Kultur.

      Wie Punk musikalisch keinen Sinn ergab, ergab er sozial Sinn: In wenigen Monaten schuf er eine neue Kombination visueller und verbaler Zeichen, die unklar und aufschlussreich zugleich waren, je nachdem, wer sie sah. Allein durch seine Künstlichkeit, dass er es sich nicht nehmen ließ, eine Situation zu konstruieren und anschließend als Schwindel fallenzulassen – bald schlichen sich die Graffiti von zerfledderter Kleidung auf Gesichter, in zerrupfte, gefärbte Haare und über Löcher im Haar, die bis auf die Kopfhaut reichten –, ließ Punk das gewöhnliche gesellschaftliche Leben als Gag erscheinen, als Ergebnis sadomasochistischer Ökonomie. Punk zog Grenzen: Er grenzte die Jungen von den Alten ab, die Reichen von den Armen, dann die Jungen von den Jungen, die Alten von den Alten, die Reichen von den Reichen, die Armen von den Armen, Rock ’n’ Roll von Rock ’n’ Roll. Rock ’n’ Roll wurde wieder etwas Neues: etwas, worüber man stritt, wonach man suchte, was man schätzte und ablehnte, etwas, das man hasste, das man liebte. Rock ’n’ Roll machte wieder Spaß.

       AUS GRÜNDEN,

      die die zwei oder drei oder zehn nicht anders als in Songs oder Tiraden (von denen zunächst alle aus einem Interview oder Song der Sex Pistols stammten) artikulieren konnten, drehte sich nun alles um Hässlichkeit, Böses und Abstoßendes, um Widerwillen, Unterdrückung und Unterjochung, um Sex, Liebe, Familie, Erziehung, Popmusik, das Starsystem, Regierung, Gitarrensoli, Arbeit, Sozialhilfe, Einkaufen, Straßenverkehr, Werbung – und alles gehörte zusammen. Der schwachsinnige Werbespot im Radio, den man zu oft am Tag hörte, passte in ein Gesamtbild: Irgendwie begriff man, um diesen Jingle loszuwerden, musste man den Rundfunk verändern, was bedeutete, die Gesellschaft zu verändern. Das Gesamtbild zerfiel wieder in Fragmente: Genug Massenmörderinnen wie Myra Hindley, so stellte man sich in einem Lappen der rechten Hirnhälfte vor, der nichts von Sprache wusste, aber alles darüber, was Sprache nicht sagen konnte, und Jingles würde es keine mehr geben.

      Einkaufen, Straßenverkehr und Werbung, die als Verführungen in das Alltagsleben eingebauten welthistorischen Zumutungen – in gewisser Weise ließ sich Punk am einfachsten als neue Variante der alten, von der Frankfurter Schule geübten Kritik der Massenkultur verstehen, das kultivierte Entsetzen der Flüchtlinge vor Hitler während des Krieges vor der lässigen Vulgarität ihres Exils Amerika; eine neue Variante von Adornos in Minima Moralia dargelegter Überzeugung, dass er als deutsch-jüdischer Intellektueller auf der Flucht vor den Nazis im Land der Freien die Gewissheit der Vernichtung gegen die Verheißung geistigen Todes eingetauscht hatte. Doch jetzt brachen die Prämissen der alten Kritik an einer Stelle aus, die keiner aus der Frankfurter Schule, weder Adorno noch Herbert Marcuse oder Walter Benjamin, vorhergesehen hatte: aus dem Popkult-Herz der Massenkultur. Seltsamer noch, die alte Kritik der Massenkultur gebärdete sich nun als Massenkultur; zumindest als vielgestaltige Möchtegern-Massenkultur. Falls Punk eine Geheimgesellschaft war, so ist es schließlich das Ziel jeder Geheimgesellschaft, die Welt zu übernehmen, so wie jede Rock-Band das Ziel hat, dass alle ihr zuhören.

      Wahrscheinlich kann man keine Definition von Punk so weit fassen, dass sie Theodor W. Adorno mit einschließt. Als Musikfreund war ihm Jazz zuwider, als er zum ersten Mal Elvis Presley hörte, musste er sich bestimmt übergeben, und die Sex Pistols hätte er zweifellos

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