Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen. Lisa Lamp
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Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen und es war immer noch unerträglich heiß, als würde der Sommer dieses Jahr gar nicht mehr vorübergehen wollen. Schweiß rann über meine Stirn und am liebsten hätte ich mir den Hoodie vom Leib gerissen oder die Ärmel hochgekrempelt. Meine hüftlangen Haare waren zu einem festen Zopf gebunden und lagen über meiner linken Schulter.
Ich keuchte vor Schmerz als ich mein Gewicht auf mein anderes Bein, das in der Zwischenzeit eingeschlafen war, verlagerte, bevor ich mich wieder auf meine Lernunterlage konzentrierte. Während ich in mein Französischbuch sah, schob ich meine Brille auf meine zu groß geratene Nase und las mir die Vokabeln durch, die in der fünften Stunde zu einer Wiederholung drankommen würden. Doch bis dahin hätte ich eigentlich noch Zeit gehabt, denn die dritte Stunde hatte noch nicht angefangen.
Emma, meine Klassenkollegin, die ich am ehesten noch als meine Freundin bezeichnen konnte, stand neben mir und erzählte gerade von ihrem Wochenende.
Ich weiß, was Du jetzt denkst, aber Emma wollte gar nicht, dass ich ihr wirklich zuhöre. Sie wollte nur über ihr Leben reden, ohne dass sie wirkte, als würde sie mit sich selbst reden. Es war eine stille Übereinkunft, die wir schon vor Jahren getroffen hatten. Wir hatten weder die Telefonnummer der jeweils anderen, noch verbrachten wir außerhalb der Schule Zeit miteinander. Nur während der Schulzeit hielten wir uns gegenseitig Sitzplätze frei und sammelten Mitschriften und Hausaufgaben, wenn die andere krank war. Wir verbrachten die Pausen zusammen, damit wir nicht alleine in einer Ecke stehen mussten, als hätten wir keine Freunde. Traurigerweise war genau das der Fall. Ich war nie ein Opfer von Mobbing und ich war auch nie beliebt. Ich war einfach immer unsichtbar. Die Schüler gingen an mir vorbei und selbst wenn ich fehlte, fiel es niemandem auf. Meine Mutter, eine Psychologin, die mit ihrem Beruf verheiratet war, meinte einst, als ich weinend in meinem Zimmer saß, dass es meine Schuld sei, dass niemand freiwillig mit mir Zeit verbringen will. Ich würde mich nicht genug bemühen, nett zu anderen Menschen zu sein und den Weg Gottes nicht befolgen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht auch erwähnen, dass meine Mutter eine gottesfürchtige Katholikin, ohne Bezug zur Realität, war.
Sie war nicht immer so, aber als mein Vater uns für seine schwangere Sekretärin verließ und eine neue Familie gründete, drehte sie von einem Tag auf den anderen durch. Seitdem war sie nicht wiederzuerkennen. Aber genug davon.
Emma und ich waren am Ende des Ganges angekommen, als es passierte. Ich weiß noch exakt, was sie damals zu mir sagte. Ziemlich erschreckend, dass ich genau auf ihren letzten Satz geachtet habe, aber von dem restlichen Vortrag keine Ahnung mehr hatte.
»Read, kannst du dir vorstellen, dass dir das passieren könnte?«, hatte Emma gesagt und im Nachhinein wünschte ich, ich wüsste, worüber sie gesprochen hatte. Aber ich konnte nicht mehr nachfragen. Ich war wie erstarrt, fast gelähmt. Eine von IHNEN hatte die Eingangstüren geöffnet und der Wind schlug die Glastür hinter ihr wieder zu. Sie schwebte über den Boden des Schulflurs und ich konnte hören, wie die Schüler um mich herum scharf die Luft einzogen, bevor ihr Atem stockte. Ich konnte meine Mitschüler verstehen. Sie war wirklich wunderschön. Ihr hellblaues Seidenkleid umschmeichelte ihre Taille und erinnerte mich an die Farbe ihrer Augen. Ihr langes blondes Haar fiel über ihren Rücken und an ihren spitzen Ohren hingen große Kreolen. Auch wenn ihr Lächeln wirklich bezaubernd war und ihre Füße, an denen sie keine Schuhe trug, über den Boden schwebten, wie bei einer guten Fee aus einem Märchen, machte sie mir Angst. Ich wusste nicht warum.
Ich wusste nur, dass dieses kleine Menschlein nicht hierhergehörte, doch wie alle anderen wusste ich, was von uns erwartet wurde, wenn jemand wie sie hier auftauchte.
Ich neigte den Kopf zur Brust und murmelte: »Fatum viam invenit.«
Damals hätte mich niemand fragen dürfen, was diese Phrase bedeutet, denn ich hatte keine Ahnung und ich schätze, Emma und den anderen Jugendlichen in meiner Schule ging es genauso wie mir. Natürlich war das nicht der richtige Moment, um mit meinen Gedanken in die Vergangenheit abzuschweifen, aber ich musste sofort wieder daran denken, dass uns schon im Kindergarten diese Zeilen beigebracht wurden und wie sehr ich es verabscheut hatte, da es für mich nie einen Sinn ergeben hatte. Zu meiner Verteidigung wäre zu sagen, dass ich auch dachte, niemals in die Situation zu kommen, einer von IHNEN gegenüberzustehen. Doch nun war es soweit. Auch wenn ich wusste, dass es sich nicht gehörte oder sogar streng verboten war, hob ich den Kopf, um das Geschöpf vor mir zu betrachten. Bei kurzer Betrachtung sah sie wie ein normaler Mensch aus, mit ihren hellblauen Kulleraugen und ihrem Piercing im rechten Nasenflügel. Doch sobald ich an ihrem Körper hinabsah, konnte ich sehen, dass das unschuldig aussehende Mädchen keinesfalls normal war. An ihren Schultern, wo das Kleid die zarte Haut freilegte, stachen mir blaue kleine Tattoos ins Auge. Sie sahen aus wie Wassertropfen und schienen sich unter meinem Blick zu bewegen. Als die Farben immer dunkler wurden, sah ich panisch zurück in das Gesicht des Mädchens. Sie lächelte. Es war absurd. Sie stand einfach da, grinste mich an und klatschte drei Mal in die Hände.
Plötzlich wurde alles schwarz um mich herum und ich konnte nichts mehr sehen. Weder die grässlichen Schulwände, deren Farbe an ein Gefängnis erinnerte, noch das zierliche Gesicht mit den puppenhaften Augen. Auch mein Gehörsinn verließ mich nach und nach. Ich konnte das Atmen der anderen Schüler nicht mehr hören, auch wenn ich mich penetrant darauf konzentrierte. Bumm, bumm, bumm, hörte ich mein eigenes Blut in meinem Kopf pochen. Ich lehnte mich, um nicht zu fallen, an den Spinden hinter mir an.
»Read!«, schrie jemand und ich sah mich panisch um,
ohne auch nur einen Funken zu sehen.
»Read!«, hörte ich die Stimme wieder und drückte meine Handflächen auf meine Ohren.
»Wir brauchen dich, Read. Komm nach Hause!«
Die Stimme wurde immer lauter. Meine Sicht verschwamm, doch anstatt wieder die kalten Schulmauern und meine idiotischen Mitschüler zu sehen, sah ich Flammen. Vor mir loderte ein Feuer und Menschen liefen wie wild durch die Gegend. Eine lange Straße erstreckte sich vor mir und überall war es schmutzig. Es war heiß durch das Glühen des Feuers und es stank bestialisch. Ein Kind, höchstens zehn Jahre alt, saß in einer Ecke zwischen zwei Häusern und hatte eine alte Porzellanpuppe in der Hand. Das Gesicht der Puppe war voller Ruß und auch die Kleidung des Mädchens war kohlrabenschwarz vor Dreck. Doch am schockierendsten war, dass am Saum des Kleides trockenes Blut klebte. Das Kind wippte vor und zurück und sang leise vor sich hin. So leise, dass ich sie kaum richtig verstehen konnte.
»Kleines Püppchen, kleines Püppchen, die Welt ist grausam und gemein«, summte sie vor sich hin und streichelte dem Spielzeug über die künstlichen Haare. Die Flammen kamen näher und die Schreie der Menschen gingen mir durch Mark und Bein. Sie versuchten, sich hinter Häusern und in kleinen Spalten zu verstecken, doch überall wurden sie gefunden. Das Meer aus Flammen verschlang alles. Das Gemurmel der Kleinen war tröstlich in dieser Umgebung. Sie wirkte unbekümmert, auch wenn ich durch die Puppe ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Als die Hitze nur noch wenige Meter von der Kleinen entfernt war, sprang sie auf und drehte sich zum Feuer, sodass ich ihren Rücken sehen konnte. Ihr Kleid war hinten aufgerissen und ihre Haut war verkrustet. Ihre langen blonden Haare waren verfilzt und ein Käfer krabbelte an einer fettigen Strähne entlang. Die Puppe baumelte an ihrer rechten Hand hinunter. Die Nägel des Kindes waren eingerissen und auch auf ihren Handrücken sammelte sich der Schmutz der Straße.
»Lauf!«, schrie ich ihr zu, als das Feuer das Haus vor dem Mädchen verschlang und für immer zerstörte.
»Wohin?«, fragte das Mädchen und streckte die Arme aus, als wollte sie mir zeigen, dass alles zerstört war und es für sie keinen