Wenn die Nacht stirbt und die Zeit still steht. Lisa Lamp
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»Es tut mir leid, dass ich dich nicht persönlich gefragt habe, aber es wäre mir dennoch eine Ehre, wenn du meine Frau werden würdest.«Er streckte Margaretha seine Hand entgegen, die sie zögerlich ergriff. Sie dachte nicht mehr daran, dass das Spektakel gegen ihren Willen geschah oder sie zu einer Antwort ansetzen sollte. Es zählte nur noch dieser Mann vor ihr und seine dunklen Augen, die sie an wunderschöne Seen erinnerten. Sobald ihre Finger in seiner Hand lagen, kribbelte Margarethas ganzer Körper. Von ihrem Haaransatz bis zu ihren Zehenspitzen und es hörte auch nicht mehr auf. Nicht als sie den kurzen Gang zurücklegten oder sich in der kleinen Kirche küssten. Auch nicht, als der Ehemann seiner Ehefrau einen Ring ansteckte, der mehr wert war als die gesamte Einrichtung von Margarethas Familie. Erst als alle Gäste sich verabschiedet hatten und Caspar seine Frau wirklich zu der seinen machte, umhüllte die beiden ein helles Licht, das das Kribbeln ablöste und sich auflöste, als die Seelen der Liebenden endlich wieder vereint waren.
1402 n. Chr.:
Dorothea blickte vom Turm auf den Wagen hinab, den ein Bauer über den Marktplatz zog, während sie ihre schwarzen Locken mit der neuen Bürste kämmte, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Es war nicht der erste Wagen heute und würde nicht der letzte sein. Das wusste Dorothea schon mit ihren sieben Jahren. Tagtäglich hatte sie den gleichen Bauern beobachtet, immer zur selben Zeit, wie er keuchend die Leichen transportiert hatte. Bei Sturm, Sonne oder Regen. Sie wusste nicht, wohin er sie brachte, aber sie erblickte niemals dieselben Toten zweimal, auch wenn sie eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Körper, deren schwarze Haut übersät war mit Beulen, stapelten sich auf dem fahrenden Holz und sie beugte sich weiter aus dem Fenster, um alles genau sehen zu können. Dorothea wusste auch, wie die Krankheit verlief, die die Menschen dahingerafft hatte, aber nicht, warum man sie so weit wegbrachte. Hohe Temperaturen, Kopfschmerzen, Schüttelfrost, Schwindel, Schmerzen in Armen und Beinen. Absterben der Finger, Zehen und Nasen. Sie hatte es auswendig zu lernen und sofort zu sagen, wenn sie oder eins der anderen Kinder im Turm eines der Anzeichen zeigten. Die Krankheit war grauenvoll und weit verbreitet unten bei den armen Menschen, deshalb verstand Dorothea, warum sie in diesem Raum, fern von der Seuche, bleiben musste, obwohl sie lieber selbst über den Marktplatz spazieren gegangen wäre, um die Sonne zu genießen oder mit jemandem zu sprechen, der mehr von der Außenwelt kannte als sie. Ihr war langweilig und sie spürte ein Ziehen in ihrer Brust, dass sie nach unten zog. Keines der anderen Kinder spielte mit ihr. Sie hielten sie für sonderbar mit ihren brennenden Händen und der Flamme in den Augen. Manche hatten Angst, andere wollten nur nicht in den Dunstkreis des Spottes geraten. Das machte sie unendlich traurig. Sie fühlte sich so allein wie schon lange nicht mehr. Vielleicht war das der Grund, warum sie heute besonders intensiv auf die Fliegen starrte, die über den Toten kreisten und sich auf die schwarzen Flecken setzten. Es waren so viele. Ob sie Freunde waren und deshalb alle gemeinsam flogen? Einer der Körper erregte ihre Aufmerksamkeit. Er schien dunkler verfärbt zu sein als die anderen und er wurde von zwei weiteren Toten begraben, die quer über seiner Brust lagen und ihn erdrückten. Der Mann, eigentlich war er noch ein Kind, das niemals älter werden würde, war kleiner als die anderen Leichen, sodass er leicht zu übersehen gewesen wäre. Die Augen waren weit aufgerissen, aber die Farbe der Iris war kaum zu erkennen. Der Druck in Dorotheas Brust, nach draußen zu gehen, verschwand und machte einer Trauer Platz, die ihr die Luft zum Atmen nahm und ihre Schultern herabsinken ließen. Sie kannte den Jungen nicht, aber das Bild seines Todes bekümmerte sie und schmerzte mehr, als der Verlust ihrer Eltern vor wenigen Monden. Und der Kummer wollte auch nicht vergehen. Sie versuchte alles, um wieder zu lachen und den Jungen zu vergessen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie hätte weinen können. Jeden Tag. Immer. Und am Ende tat sie auch nichts anderes mehr, außer ihren Sturzbächen freien Lauf zu lassen. Zwanzig Jahre, eine Heirat und drei Erben später versenkte sie unglücklich das Fleischmesser in ihrem Bauch, weil sie es leid war, auf das Glück, das niemals kommen würde, zu hoffen. Aber in der Sekunde des Sterbens zeichnete sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Irgendetwas in ihr wusste, dass sie die Chance bekommen würde, den jungen Mann wiederzusehen.
1556 n. Chr.:
Catharina stockte der Atem, als Barthel auf die Bühne neben der amtierenden Königin geführt wurde. Die Herrscherin hatte ihre Lippen zu einem schmalen Strich verzogen, um ihr eiskaltes Lächeln zu kaschieren. Es gelang ihr nicht. Ihre roten Haare und die blasse Haut ließen sie trotzdem wie der lebende Teufel aussehen. Die Flammen, die ihr Gesicht erhellten, verstärkten diesen Verdacht, genau wie die schwarzen Roben, die sie trug. Die dunklen Töne bildeten einen gespenstischen Kontrast zu ihrem Teint, der sie noch blasser wirken ließ. Furchterregend. Das war die Königin. Besser konnte Catharina es nicht beschreiben.
Die Hitze, die von dem Feuer ausging, auf das Barthel zugeschoben wurde, war wie Gift für Catharina. Ihr wurde schwindelig und ihr fiel es schwer, den schmerzenden Rücken durchzudrücken, der sich durch ihre bleierne Last in die falsche Richtung bog. Das Kind, das seit sechs Monden in ihr wuchs, hatte ihr schon die letzten Nächte Probleme bereitet, doch nun wütete es in ihrem Inneren. Es schlug mit den Füßen gegen ihren Unterleib und protestierte gegen die Hand seiner Mutter, die über ihren Bauch strich, um den Kämpfer zu beruhigen. Ihr wurde schlecht. Wieder ging ein Tritt gegen ihre Wirbelsäule und Catharina musste ein Keuchen unterdrücken, um in der Menge keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auf keinen Fall durfte sie jemand bemerken. Es würde ihren Tod bedeuten, wenn sie jemand erspähte, doch das hatte sie nicht abgehalten zu kommen. Sie wollte dabei sein. Lieber hier als in einem Bunker unter der Stadt auf das Unvermeidliche zu warten. Ihre Hand rieb erneut über ihre Bauchdecke, aber das half nicht, um das Durcheinander, das in ihr herrschte, zu besänftigen. Ob das Ungeborene wusste, dass es dabei war, seinen Vater zu verlieren? Catharina hatte das Gefühl sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Kalter Schweiß benetzte ihre Haut und die schwarzen Haare, die über ihren Nacken fielen, als die Frau, die vor Barthel stand, den Flammen überlassen wurde. Die Gefangene bettelte entsetzt um Vergebung und riss panisch die Augen auf. Die Wärter drängten Catharinas Geliebten mit den Schwertspitzen weiter nach vorne, ohne abzuwarten, bis die Unbekannte bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Sie krümmte sich vor Schmerzen und schrie markerschütternd. Barthel wollte sich nicht bewegen und suchte Catharinas Blick in der Menschenmenge, wodurch er die leichte Erhebung am Boden nicht sah, die von einem losen Brett der Bühne verursacht wurde. Er stolperte. Hart schlugen seine Knie auf dem Holz auf und sein Gesicht kam dem Feuer so nahe, dass Barthel der Schweiß von der Stirn tropfte. Sein Mund formte Catharinas Namen und ein Lächeln legte sich auf seine Züge, als er erneut ihre Augen vereinnahmte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und Tränen, die einfach nicht verschwinden wollten, liefen ihr ungehindert über die Wangen. Sie würde ihn verlieren. Sie hatte es gewusst, als die Männer ihn geholt hatten, aber ihn auf der Bühne zu sehen, war etwas ganz anderes. Sie wünschte, sie könnte statt ihm vor den Flammen stehen und ihm die Qualen ersparen, aber sie wusste, dass er das nicht wollen würde. Für ihn war es so richtig, solange es ihr gut ging. Einer der Männer trat Barthel gegen die Rippen, sodass er dem Feuer wieder ein Stück näherkam, und diesmal schrie er auf wie ein gequältes Tier. Die Hitze schlug über und brannte ihm die Haut und das Fleisch von den Händen, mit denen er in die Flammen griff, um sich abzustützen. Instinktiv wollte Barthel zurückschrecken und spießte sich damit selbst auf einem Schwert auf, das ihn gewaltsam ins Feuer schob. Seine Schreie wurden lauter und Catharina wollte die Augen schließen, um nicht zusehen zu müssen, wie die Liebe ihres Lebens gefoltert wurde und wie sein Blut über das Holz der Bühne tropfte. Aber sie schaffte es nicht, den Blick abzuwenden. Es faszinierte sie, wie Barthel im Feuer tanzte und sein Körper mit den Flammen verschmolz.