Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG. Lisa Maria Völkerding
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Zunächst bekräftigte das BVerfG das abgeleitete verfassungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht aller der Kirche zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform, sofern sie nach kirchlichem Selbstverständnis den Sendungsauftrag der Kirche miterfüllen.336
Die karitativen bzw. erzieherischen Einrichtungen der Kirche ordnete das Gericht als deren „eigene Angelegenheiten“ i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV ein.337 Der Abschluss von Arbeitsverträgen sei insofern eine dem kirchlichen Selbstverständnis obliegende rechtliche Vorsorge für die Wahrnehmung kirchlicher Dienste.338 Soweit sich die Kirchen der Privatautonomie bedienen, seien die dem staatlichen Arbeitsrecht kraft Rechtswahl unterfallenden Verträge arbeitsgerichtlich zu überprüfen, wobei die Eigenart des kirchlichen Propriums respektiert werden müsse.339
Das verfassungsrechtlich verankerte Selbstbestimmungsrecht eröffne den Kirchen die Möglichkeit, zum Schutze ihrer Glaubwürdigkeit verbindliche Loyalitätsanforderungen für ihre Mitarbeiter auszuformen und deren Beachtung abzuverlangen.340 Diese Anforderungen hätten allerdings insofern eine Grenze, als dass das Arbeitsverhältnis „[…] keine säkulare Ersatzform für kirchliche Ordensgemeinschaften und Gesellschaften apostolischen Lebens […]“ sein könne.341 Welche Verpflichtungen für das Arbeitsverhältnis bedeutsam sind, richte sich nach den kirchlichen Maßstäben.342
Die §§ 1 KSchG, 626 BGB seien „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV, ohne der Freiheit der Kirche in jedem Fall vorzugehen.343 Der Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck müsse vielmehr durch eine Güterabwägung Rechnung getragen werden, die dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche besonderes Gewicht beizumessen habe.344 Die vom kirchlichen Selbstverständnis her gebotenen Loyalitätsanforderungen seien aus verfassungsrechtlichen Gründen in der individualarbeitsrechtlichen Rechtsanwendung zu berücksichtigen und in ihrer Tragweite festzustellen.345
Die für die Gerichte verbindliche Entscheidung darüber, was die kirchliche Glaubwürdigkeit erfordert, was „spezifisch kirchliche Aufgaben“ seien, was „Nähe“ bedeute, was die „wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre“ seien, in welchen Abstufungen sie die Mitarbeiter verpflichteten und was einen schweren Verstoß hiergegen darstelle, treffe allein die Kirche nach ihrem Selbstverständnis.346 Die Bindungswirkung des kirchlichen Selbstverständnisses für die weltlichen Fachgerichte sei allein begrenzt durch die Grundprinzipien der Rechtordnung, nämlich dem allgemein Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), den „guten Sitten“ i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB sowie dem „ordre-public“-Vorbehalt (Art. 30 EGBGB a.F.347).348 Jenseits dieser Grenze beschränke sich die Aufgabe der Fachgerichte darauf, den festzustellenden Sachverhalt unter die von der Kirche vorgegebenen Loyalitätsobliegenheiten zu subsumieren.349
Das BVerfG gab den Arbeitsgerichten damit eine „zweistufige“ Prüfung vor:350 Auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob in dem jeweiligen Fall nach dem Selbstverständnis der verfassten Kirche eine „arbeitsrechtlich abgesicherte“ Loyalitätspflicht besteht, inwiefern eine Loyalitätspflichtverletzung des kirchlichen Arbeitnehmers vorliege und schließlich, wie schwer diese Loyalitätspflichtverletzung nach kirchlichem Selbstverständnis wiege.351 Auf einer zweiten Stufe hätten sodann die Gerichte unter Anwendung der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften der §§ 1 KSchG, 626 BGB zu klären, ob die Loyalitätsobliegenheitsverletzung eine Kündigung sachlich rechtfertige.352 Die Gewichtung der Obliegenheitsverletzung durch das Revisionsgericht im Rahmen der gem. §§ 1 KSchG, 626 BGB erforderlichen Interessenabwägung habe nach Ansicht des BVerfG das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verletzt, weil das BAG der Schwere der Loyalitätsverletzung im Sinne des Selbstverständnisses der verfassten Kirche nicht ausreichend Rechnung getragen habe.353
3. Die Chefarzt-Entscheidung
a) Hintergrund
Erneut war es das außerdienstliche Verhalten eines nordrhein-westfälischen Mediziners, das dem 2. Senat des BVerfG Gelegenheit gab, sich mit der arbeitsgerichtlichen Prüfungskompetenz in Bezug auf kündigungsrelevante Loyalitätsobliegenheiten zu befassen:
Seit dem Jahre 2000 war der Katholik „JQ“ als Chefarzt in einem unter Aufsicht des Erzbistums Köln stehenden Krankenhaus beschäftigt, das durch eine dem Bistum unterstehenden Kapitalgesellschaft („IR“) betrieben wurde. JQ ließ sich während des laufenden Beschäftigungsverhältnisses Anfang 2008 von seiner Ehefrau zivilrechtlich scheiden. Die nach kanonischem Recht geschlossene Ehe wurde kirchenrechtlich allerdings nicht für nichtig erklärt. Nachdem JQ einige Zeit mit einer neuen Lebensgefährtin zusammengelebt hatte, was seinem Arbeitgeber bekannt war, heiratete er diese schließlich Mitte des Jahres 2008 standesamtlich. Als die Arbeitgeberin IR hiervon Anfang 2009 erfuhr, kündigte sie JQ daraufhin ordentlich das Arbeitsverhältnis. Die gegen diese Kündigung gerichtete Klage von JQ war in allen drei arbeitsgerichtlichen Instanzen erfolgreich.354 Das BAG wies die Revision der Arbeitgeberin IR mit Urteil vom 8. September 2011355 zurück und führte aus: Auch wenn der Loyalitätsverstoß der Wiederheirat dem Grunde nach eine Kündigung rechtfertige356, überwögen vorliegend die Grundrechte und Interessen des gekündigten Arbeitnehmers.357 Im Rahmen der Interessenabwägung stellte das Gericht fest, dass die bisherige Handhabung des kirchlichen Dienstgebers gegen die Notwendigkeit der Durchsetzung des sittlichen Loyalitätsanspruchs spreche.358 Erstens beschäftige das Krankenhaus auch nichtkatholische Chefärzte, sodass sie auf das Lebenszeugnis der katholischen Mitarbeiter weniger angewiesen sei.359 Zweitens habe sie mehrere wiederverheiratete Chefärzte in der Vergangenheit beschäftigt.360 Drittens habe die Dienststelle die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die der Heirat vorangegangen war, gekannt und toleriert361, und viertens spreche für den Arzt der Schutz aus Art. 8 und Art. 12 EMRK sowie der Umstand, dass die Eheschließung nicht in feindlicher Gesinnung oder erkennbarer Ablehnung der Sittenlehre der Kirche erfolgt sei.362
b) Die Gründe des Chefarzt-Urteils
Das auf das Revisionsurteil hin angerufene BVerfG stellte fest, dass die Arbeitsgerichte erneut die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche verkannt und verletzt hätten. Das Gericht bestätigte in einer deutlich umfangreicheren Begründung die Wertungen des Stern-Urteils und präzisierte die zweistufige Prüfung:
Auf der ersten Stufe habe das Arbeitsgericht eine „Plausibilitätskontrolle“ vorzunehmen und zu prüfen, „[…] ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrages [teilhabe], ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes [sei] und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis […]“ zukomme.363 Sodann folge auf der zweiten Stufe eine Gesamtabwägung im Sinne der Schranke der „für alle geltenden Gesetze“, bei der „im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ die sich widersprechenden Rechtspositionen in einen Ausgleich zu bringen seien.364 Auf Seiten der Arbeitgeberin seien dies ihre kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit, auf Seiten des Arbeitnehmers dessen Grundrechte (Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG365) sowie dessen sonstige, einfachgesetzlich normierten Schutzrechte.366
Soweit nach der Stern-Entscheidung noch offen und streitig gewesen war, ob die Gerichte bei ihrer Abwägung entgegenstehende Arbeitnehmergrundrechte zu berücksichtigen hätten367, beantwortete das BVerfG die Frage durch