Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG. Lisa Maria Völkerding
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Bei der Überprüfung von arbeitsrechtlich relevanten Loyalitätsobliegenheiten hätten die Arbeitsgerichte den „organischen Zusammenhang“ der Statusrechte aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV und dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten und umzusetzen.370 Dem kirchlichen Arbeitgeber obliege es, plausibel dazulegen, inwieweit eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit aufgrund der gemeinsamen Glaubensüberzeugung oder Dogmatik verlangt werden müsse, wobei das Gericht ggf. ein kirchenrechtliches Sachverständigengutachten einzuholen habe.371 Die so gewonnene Wertung habe das Gericht im Rahmen der Grenzen der Rechtsordnung seiner Entscheidung zugrunde zu legen, ohne eine eigene Einschätzung hinsichtlich der Gefährdung der Glaubwürdigkeit durch einen Verstoß oder hinsichtlich der Nähe der Arbeitnehmerfunktion zum kirchlichen Sendungsauftrag vorzunehmen.372 Der eigenständigen Überprüfung des Tätigkeitsbezugs einer nach Konfession der Mitarbeiter differenzierenden Loyalitätsanforderung durch die Arbeitsgerichte erteilte das BVerfG eine klare Absage:
„Den staatlichen Gerichten ist es insoweit verwehrt, die eigene Einschätzung über die Nähe der von einem Arbeitnehmer bekleideten Stelle zum Heilsauftrag und die Notwendigkeit der auferlegten Loyalitätsobliegenheit im Hinblick auf Glaubwürdigkeit oder Vorbildfunktion innerhalb der Dienstgemeinschaft an die Stelle der durch die verfasste Kirche getroffenen Einschätzung zu stellen […].“373
In der Abwägungsentscheidung auf der zweiten Stufe wirke sich u.a. aus, ob dem Arbeitnehmer die Loyalitätsanforderung bei dem Verstoß bekannt gewesen war, da mit der bewussten Unterwerfung unter die kirchlichen Anforderungen auch ein freiwilliger Verzicht auf gewisse Freiheitsrechte einhergehe.374 Das BVerfG stellte ferner klar, dass das Arbeitsrecht keine absoluten Kündigungsgründe kenne und daher stets eine den Wechselwirkungen der widerstreitenden Rechtspositionen Rechnung tragende Abwägung zu erfolgen habe.375 Obgleich dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche kein prinzipieller Vorrang vor den Arbeitnehmergrundrechten gebühre, sei ihm dabei ein „besonderes Gewicht“ beizumessen.376 Diese modifizierte Abwägung harmoniere auch mit den Wertungen des Art. 11 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 9 Abs. 1 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR.377
4. Zusammenfassung und Stellungnahme
§ 1 KSchG und § 626 BGB stellen besonders relevante, „für alle geltende Gesetze“ i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV dar.378 Die „weltlichen“ Arbeitnehmerschutzgesetze finden kraft Rechtswahl auf die kirchlichen Arbeitsverhältnisse Anwendung379 und eröffnen eine Rechtskontrolle durch die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit. Diese der Justizgewährungspflicht folgende Kontrolle wird wiederum durch die verfassungsrechtlich garantierten Besonderheiten des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften begrenzt.380 Das BVerfG hat in den Leitentscheidungen Stern und Chefarzt bestimmt, dass die Untersuchung von kirchlichen Kündigungsentscheidungen in zwei Stufen zu erfolgen habe:
Auf erster Stufe sei der kirchliche Vortrag lediglich auf seine Plausibilität hin zu überprüfen.381 Den Arbeitsgerichten sei insbesondere eine eigenständige Überprüfung des Tätigkeitsbezugs der infrage stehenden Loyalitätsanforderung verwehrt.382 Diese Bindungswirkung des kirchlichen Selbstverständnisses unterliege allein der allgemeinen Grenze der grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen.383
Auf zweiter Stufe folge eine Gesamtabwägung, bei der „im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ die grundgesetzlich garantierten Rechte der Kirche und die Grundrechtspositionen der betroffenen Arbeitnehmer in einen Ausgleich zu bringen seien. 384 Zwar stellte das BVerfG einerseits klar, dass die (Grund-)Rechte der Arbeitnehmer ausnahmslos bei jeder Bewertung eines Loyalitätsverstoßes zu berücksichtigen seien, andererseits komme dem schrankenlos gewährleisteten kollektiven Religionsfreiheit ein „besonderes Gewicht“ zu.385 Damit bestätigt das Gericht, dass eine Grundrechtsabwägung nach besonderer, „eigener Formel“386 durchgeführt werden muss, die der einzigartigen Stellung der Kirche im staatlichen Gefüge als eine vor dem Staat gewesene Ordnung mit originären Rechten entspricht.387
Dem BVerfG ist zuzustimmen. Das Gericht füllt die Schrankenregelung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV im Sinne der hier befürworteten Wechselwirkungslehre aus. Bei der Berücksichtigung der durch die für alle geltenden Gesetze geschützten Arbeitnehmerrechte muss dem Selbstbestimmungsrecht hinreichend Rechnung getragen werden.
Durch die vom BVerfG vorgegebene „besondere“ Gewichtung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts werden die Arbeitnehmerrechte nicht unverhältnismäßig beschränkt.388 Das Grundgesetz selbst gibt durch die schrankenlose Sicherung der korporativen Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG die besondere Gewichtung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche im Rahmen der Grundrechtsabwägung vor.389 Eine solche Einordnung hat das BVerfG auch bereits bei anderen schrankenlos gewährleisteten Grundrechtspositionen vorgenommen.390 Besondere Härtefälle werden bereits durch das „ultima-ratio“-Prinzip der GrOkathK sowie der EKD-RL erfasst, zumal das BVerfG klargestellt hat, dass das Abwägungsergebnis durchaus auch zugunsten der Arbeitnehmerrechte ausschlagen kann.391 Etwaige unverhältnismäßige Ergebnisse werden ferner durch die Berücksichtigung des Umstands, inwieweit sich der Arbeitnehmer den besonderen Freiheiten der Kirche arbeitsvertraglich unterworfen hat, vermieden.392
Der bewusste Verzicht auf eigene Schutzrechte schwächt den Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess, ohne dass dies als unbillig zu bezeichnen wäre. Denn wer die Vorteile eines kirchlichen Beschäftigungsverhältnisses in Anspruch nehmen will, kann diese nicht ohne die Bereitschaft einfordern, sich innerhalb der durch das BVerfG aufgezeigten Grenzen den Ansprüchen des kirchlichen Dienstgebers an seine eigene Lebensführung zu fügen. Dies gilt umso mehr, als diese Anforderungen den Arbeitnehmer nicht zu unmoralischem oder gar ungesetzlichem Verhalten veranlassen. Wenn der Arbeitnehmer seine Lebensführung gleichwohl nach nichtkatholischen Vorstellungen zu gestalten wünscht, bleibt ihm dies möglich. Es dürfte der katholischen Kirche allerdings nicht abzuverlangen sein, einen solchen Arbeitnehmer an der Verwirklichung ihres Sendungsauftrag zu beteiligen. Die katholischen Kirche verfolgt die selbstgewählte Aufgabe, die Gesellschaft nach biblischen Grundsätzen zu verändern, damit die Menschen nach ihrem Tod in das Reich Gottes gelangen können.393 Ihr Auftrag wäre daher gefährdet, wenn sie verpflichtet wäre, sich völlig den Bestimmungen des säkularen Arbeitsrecht zu unterwerfen.394 Der Sendungsauftrag der Kirche ist naturgemäß mit Belastungsproben für die nach weltlichen Gepflogenheiten operierende Gesellschaft verbunden. Diese spiegelt sich in der Überforderung des Einzelnen wieder, wenn er Christi Lehre zu folgen „willig“ ist, sich sein „Fleisch“ indes als „schwach“ erweist.395 Schon Jesus Christus forderte nach der Bibelüberlieferung diejenigen, die seine Jüngern werden wollten, auf, nach seinen Vorgaben zu leben, was den einen oder anderen davon abhielt, sich seiner Gemeinschaft anzuschließen.396
22Siehe zum Bedeutungsunterschied der Begriffe der „Selbstbestimmung“ und der „Autonomie“ in diesem Sinne Hesse, in: Listl/Pirson (Hg.), HdbStKiR Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 17 S. 521 ff., S. 521.
23Siehe hierzu auch die Ausführungen unter § 5 B. III. 2. a. aa. Siehe zur Geschichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts Stern, in: ders. (Hg.), Staatsrecht Bd. IV/2, § 118 S. 897 ff.; de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 5. Aufl., § 2 – § 7; vgl. ferner vertiefend Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 3. Aufl.