Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
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Florian Scholz
„Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören. Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade.“
(Römer 12, 4-6)
Teil 1
Einführung
A. Problemstellung
Kaum ein Rechtsbereich hat in den vergangenen Jahrzehnten eine derart turbulente Entwicklung vollzogen wie das kirchliche Arbeitsrecht. War ihm zunächst als „Orchideenfach“1 nur die Aufmerksamkeit einer überschaubaren Anzahl von Experten vorbehalten, so verfügt dieser Schnittpunkt von weltlicher und geistlicher Sphäre mittlerweile über eine beachtliche juristische Tradition.2 Zuletzt stand das kirchliche Arbeitsrecht gar im Blickpunkt eines breiten öffentlichen Interesses, etwa durch die Berichterstattung der Tagesschau3 während der besten Sendezeit. Als Ursache dieser Dynamik sind im Wesentlichen zwei Faktoren auszumachen. Der eine ist rechtssoziologischer Natur – und für diese Arbeit von untergeordnetem Interesse –, der andere erwächst aus den Einwirkungen des europäischen Rechts auf das deutsche kirchliche Arbeitsrecht.
Bedeutsam ist zunächst der Befund, dass sich das gegenwärtige Verhältnis von Staat und den Kirchen einem bereits fortgeschrittenen Prozess der Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft gegenübersieht, was sich unter anderem in einer schwindenden Anerkennung der religiösen Institutionen manifestiert.4 Angesichts dieser sozialen Entwicklung sehen sich die Kirchen einem erhöhten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, ihr Selbstverständnis – das kirchliche Proprium – auch bei der Beschäftigung ihrer Arbeitnehmer wahren zu können. Der insoweit auf gesellschaftlicher Ebene geführte Diskurs über die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht wird zudem durch die Tatsache intensiviert, dass den Kirchen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber in Deutschland eine überragende Bedeutung zukommt.5 Sie betreiben zahlreiche Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Pflegeeinrichtungen und Beratungsstellen, die lebendiger Ausdruck ihrer karitativen Grundfunktion sind. Das christliche Gebot der Nächstenliebe – „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“6 – findet darin seine alltägliche Verwirklichung. Der weitaus größte Teil der in diesen Einrichtungen Beschäftigten entstammt dem allgemeinen Arbeitsmarkt und ist auf Grundlage privatrechtlicher Arbeitsverträge angestellt.7 Angesichts der Vielzahl kirchlicher Arbeitgeber und Einrichtungen kann die genaue Zahl der kirchlichen Arbeitsverhältnisse kaum ermittelt werden. In den einschlägigen Quellen der letzten Jahre ist zumeist von 1,3 bis 1,4 Millionen Arbeitnehmern die Rede.8
Aus juristischer Perspektive widmet sich dem kirchlichen Arbeitsrecht eine steigende Anzahl von Untersuchungen, da es ungefähr seit der Jahrtausendwende einem destabilisierenden Einfluss des europäischen Rechts ausgesetzt ist. Insoweit hat Lodemann bereits vor einigen Jahren ein „rechtstechnisches Bermudadreieck“ zwischen Bundesverfassungsgericht, EuGH und EGMR ausgemacht.9 Dabei ist das kirchliche Arbeitsrecht unfreiwillig zum Schauplatz für die diffizile Austarierung von verschiedenen Rechten und Rechtsquellen im mehrstufigen europäischen Rechtssystem geworden. In der Konsequenz stellen sich komplexe Fragen, welche Reichweite dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht in diesem „Labyrinth des Mehrebenenrechts“10 zugesprochen werden muss.
In diesem Zusammenhang wird jedoch häufig nicht mehr ausreichend berücksichtigt, dass das kirchliche Arbeitsrecht eine besondere verfassungsrechtliche Prägung aufweist, in der sich die individuellen nationalstaatlichen, historisch gewachsenen Grundentscheidungen zum Verhältnis von Staat und den Kirchen widerspiegeln. Es ist daher als Gradmesser für eine der ganz zentralen Lebensfragen11 des europäischen Kulturraumes anzusehen: Wie weit gewährt der liberale Rechtsstaat kirchliche Freiheit vor staatlicher Ingerenz, ab welchem Punkt sind seine Normen unverrückbare Grenze? Denn soweit die Kirchen Freiheiten bei der Beschäftigung ihrer Arbeitnehmer beanspruchen wollen, die weltlichen Arbeitgebern nicht zustehen, sind sie darauf angewiesen, dass ihnen der Verfassungsstaat als Konsequenz aus der Glaubensfreiheit auch hinreichende Autonomie auf institutioneller Ebene zur selbständigen Gestaltung und Abwicklung ihrer Angelegenheiten gewährt. Die aus dieser Ausgangslage auftretenden Friktionen haben ihre Auflösung in einem auf staatskirchenrechtlicher Grundlage modifizierten Arbeitsrecht zu finden.
Spätestens seit den Urteilen des EuGH in den Rechtssachen „Egenberger“12 und „Chefarzt“13 ist aber deutlich geworden, dass die supranationalen legislativen und judikativen Einwirkungen ganz erhebliche tektonische Verschiebungen innerhalb vieler Bereiche des kirchlichen Arbeitsrechts herbeiführen können. Die von der Verfassung vorgegebenen staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen sind der Gefahr ausgesetzt, konterkariert zu werden. Die vor zwanzig Jahren geäußerte Befürchtung von Isensee, das europäische Recht könne als „supranationale Walze“14 über die Besonderheiten des nationalen Staatskirchenrechts hinwegrollen, scheint sich damit zu bestätigen.
Allerdings stehen einer Uniformisierung des kirchlichen Arbeitsrechts im Sinne eines paneuropäischen Standards bedeutende Schutzwälle gegenüber. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts schützt der sogenannte „Kirchenartikel“ Art. 17 Abs. 1 AEUV den jeweiligen Status der Kirchen, den diese in den einzelnen Mitgliedstaaten genießen. Im Kontext der Anwendung der Europäischen Konvention für Menschenrechte ist die vom EGMR entwickelte margin of appreciation als nationaler Beurteilungsspielraum geeignet, die einzelstaatlichen Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen.
Auf dieser Grundlage kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich die Grundentscheidungen und Modelle des Staatskirchenrechts innerhalb Europas ganz erheblich unterscheiden.15 Eher kirchenfreundlichen Modellen wie dem deutschen Kooperationssystem stehen Ausgestaltungen laizistisch geprägter Trennung wie zum Beispiel in Frankreich gegenüber. Auf der anderen Seite des Spektrums sind Staat und Kirche in manchen Ländern noch eng verflochten; so besteht etwa in England eine Staatskirche. Es muss vermutet werden, dass sich diese staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen unmittelbar auf die Ausgestaltung des jeweiligen kirchlichen Arbeitsrechts auswirken.
Doch es ist bislang nicht eingehend16 rechtsvergleichend untersucht worden, inwieweit sich das deutsche kirchliche Arbeitsrecht mit der Rechtslage in anderen europäischen Staaten deckt oder unterscheidet. Nur die komparative Analyse verschiedener nationaler Rechtsordnungen einschließlich ihrer jeweiligen Prämissen und Lösungen vermag aber eine Vorstellung von den einzelstaatlichen Besonderheiten und ihren spezifischen Ursachen zu vermitteln. Auf diese Weise kann eine weitere notwendige Ebene zur Reflektion über die Zulässigkeit von Ingerenzen der europäischen rechtlichen Einflüsse gegenüber dem deutschen kirchlichen Arbeitsrecht erschlossen werden.
In diesem Zusammenhang bedarf es insbesondere einer Beantwortung der folgenden Fragen: Gibt es einen spezifisch nationalen Status der Kirchen innerhalb des Arbeitsrechts? Besteht auf dem Gebiet des kirchlichen Arbeitsrechts ein gesamteuropäischer Standard? Und falls nicht, in welchem Maße unterscheidet sich die deutsche Rechtslage von derjenigen der anderen europäischen Länder?
Die Klärung dieser Fragestellungen ist von überragender Bedeutung für eine verständige Anwendung des oben angesprochenen europarechtlichen Instrumentariums zur Wahrung der individuellen Ausprägungen des Staatskirchenrechts innerhalb der EU. Es ist Zeit, den kirchenarbeitsrechtlichen Horizont über die eigenen nationalen Grenzen hinaus zu erweitern.
1Joussen, AL 2015, 19.
2Dies vermag bereits Folgendes zu veranschaulichen: Das Standardwerk von Reinhard Richardi, Arbeitsrecht