Grundrechte. Daniela Schroeder
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Beispiel[40]
Der erwachsene A ist kleinwüchsig. Als Artist hat er sich auf den sog. „Zwergenweitwurf“ spezialisiert. Bei seiner Berufsausübung ist er darauf angewiesen, vor Publikum aufzutreten, denn beim Zwergenweitwurf werfen Personen aus dem Publikum den Zwerg so weit wie möglich. Als A in München auftreten möchte, untersagt ihm die zuständige Behörde den Auftritt unter Berufung auf die Gewerbeordnung. Zu Recht? – Nach der Rechtsprechung ist die öffentliche Gewalt (hier die Exekutive) in einem derartigen Fall aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten, die Möglichkeiten, die sie bei ihrer Rechtsanwendung hat, auszuschöpfen, um einen derartigen Angriff auf die Würde des Menschen abzuwehren.[41] Hier besteht diese Abwehrmöglichkeit in der gewerberechtlichen Untersagung des Auftritts des A durch die zuständige Behörde.
c) Ausstrahlungswirkung (mittelbare Drittwirkung)
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Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an sich nur die öffentliche Gewalt. Die öffentliche Gewalt ist danach grundrechtsverpflichtet, während die Bürger grundrechtsberechtigt sind (sog. vertikale Geltung der Grundrechte). Gleichwohl ist anerkannt, dass die Grundrechte auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern ausstrahlen (sog. horizontale Geltung der Grundrechte); dies folgt aus der Funktion der Grundrechte als objektiv-rechtliche Wertentscheidung (s.o. Rn. 12). Dabei ist zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren horizontalen Geltung der Grundrechte zu unterscheiden: Die Grundrechte gelten horizontal nur ausnahmsweise unmittelbar. Ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen ist eine solche Geltung der Grundrechte nur in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG sowie wohl auch in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 20 Abs. 4 GG. Im Übrigen strahlen die Grundrechte auf das Privatrecht aus und wirken zwischen den Bürgern lediglich mittelbar über die sog. zivilrechtlichen Generalklauseln und die unbestimmten Rechtsbegriffe (sog. Ausstrahlungswirkung bzw. mittelbare Drittwirkung).[42] Hierzu gehören z.B. § 138 BGB (gute Sitten), § 242 BGB (Treu und Glauben), § 826 BGB (sittenwidrige Schädigung); § 23 Abs. 2 KUG (berechtigtes Interesse). Die Generalklauseln und die unbestimmten Rechtsbegriffe sind jeweils im Lichte der einschlägigen Grundrechte auszulegen und anzuwenden.
Beispiel
K besucht regelmäßig die Spielbank in Baden-Baden und spielt dort Automatenspiele. Er beantragt bei der Spielbank eine „Eigensperre“. Danach soll die Spielbank ihn vom weiteren Spielen ausschließen, wenn er 5000 € verloren hat. Die Spielbank akzeptiert seinen Antrag. Als an einem Abend diese Verlusthöhe bei K erreicht ist, reagiert die Spielbank nicht, sondern lässt ihn weiterspielen. Am Ende des Spielabends hat K 8000 € verloren. – Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kann eine Spielbank bei einer antragsgemäß verhängten Spielsperre Schutzpflichten haben, die auf Wahrnehmung der Vermögensinteressen ihrer Gäste gerichtet sind.[43] Dies folge aus der Auslegung einer entsprechenden vertraglichen Abrede zwischen Spieler und Spielbank (§§ 133, 157 BGB). Sinn der vertraglichen Abrede, dass die Spielbank ab einer bestimmten Verlustsumme den Abschluss weiterer Spielverträge ablehne, sei, dass der zur Spielsucht neigende Gast sich selbst schützen wolle, indem er sich mit Hilfe der Spielbank den für ihn als gefahrträchtig erkannten Zugang verstellen wolle.
4. Verfahrens- und organisationsrechtliche Funktionen der Grundrechte
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Die verfahrens- und organisationsrechtlichen Funktionen der Grundrechte liegen quer zu den subjektiv- und objektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte.[44] Man kann sie deshalb als Hilfsfunktionen bezeichnen.[45]
a) Verfahrensrechtliche Funktion
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Die verfahrensrechtliche Funktion der Grundrechte beinhaltet, dass die Grundrechte bereits im Entscheidungsprozess durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen abgesichert sind. Verfahren müssen demnach so gestaltet sein, dass eine Entwertung materieller Grundrechtspositionen ausgeschlossen ist.[46] Um dies zu gewährleisten, stehen einige Grundrechte ausdrücklich unter einem Verfahrensvorbehalt (z.B. Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG). Auch die Grundrechte, die nicht ausdrücklich unter einem Verfahrensvorbehalt stehen, verpflichten die öffentliche Gewalt, Gerichts- und Verwaltungsverfahren so auszugestalten und zu organisieren, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sich effektiv am Verfahren zu beteiligen, damit er die ihm zustehenden Grundrechtsgewährleistungen verwirklichen kann.
Beispiel
Vgl. den Mühlheim-Kärlich-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts[47] als klassisches Beispiel: In diesem Verfahren hatte das Bundesverfassungsgericht über Verfahrensfehler im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren zu entscheiden. Es stellte fest, dass das Grundrecht auf Leben und Gesundheit im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren eine besondere Stellung erfordert. Die öffentliche Gewalt erfülle ihre Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch durch Verfahrensvorschriften. Eine Verletzung des Grundrechts könne darin liegen, wenn die öffentliche Gewalt lebensschützende Verfahrensvorschriften außer Acht ließe.
b) Organisationsrechtliche Funktion
48
Die organisationsrechtliche Funktion der Grundrechte wird besonders in den Fällen relevant, in denen sich die Grundrechte in einer staatlichen Institution entfalten.
Beispiel
Eine staatliche Hochschule muss so organisiert sein, dass eine freie Wissenschaft in ihr möglich ist.[48]
c) Subjektiv-öffentliches Recht auf Schutz durch Verfahren und Organisation
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Das Bundesverfassungsgericht und – ihm folgend – die wohl überwiegende Meinung im Schrifttum nehmen an, die verfahrens- und organisationsrechtliche Funktion der Grundrechte könne ein subjektiv-öffentliches Recht auf angemessenen Schutz durch Verfahren und Organisation begründen.[49] Sie folgern diese Möglichkeit aus zwei Umständen: Zum einen sei es erforderlich, den objektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte möglichst auch eine subjektiv-rechtliche Komponente zuzuordnen; zum anderen betrachten sie die Grenzen zwischen den objektiv-rechtlichen und den subjektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte als Leistungsrechte als fließend. Daraus folgern sie, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein wehrfähiges Recht auf den Ausbau von Verfahrenspositionen bestehen müsse.
Beispiel[50]
Aus dem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG folgt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine Bestandsgarantie für aus öffentlichen Mitteln finanzierte wissenschaftliche Einrichtungen.[51] Das schließt nicht aus, dass eine Fakultät im Verfahren zur Aufhebung eines Studiengangs in angemessener Weise zu beteiligen ist und Anspruch auf eine zumindest willkürfreie Entscheidung hat. Das Verfahren und die Qualität der Entscheidung müssen daher bestimmten Anforderungen genügen.
50
Besteht ein subjektiv-öffentliches Recht auf angemessenen Schutz durch Verfahren und Organisation, kann es in Konkurrenz zu anderen verfahrensrelevanten Grundrechten wie etwa Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 103 Abs. 1 GG stehen.