Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
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Die Linie des Solange I-Beschlusses war nicht zu halten, wollte das Gericht nicht die Wirksamkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung in den Mitgliedstaaten generell in Frage stellen. Die teilweise heftige Kritik der Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur[66] sowie die weitere Entwicklung blieb auf die deutschen Verfassungsrichter nicht ohne Eindruck. Bereits in seinem so genannten „Vielleicht-Beschluss“ vom 25. Juli 1979 betonte das Gericht die Notwendigkeit „einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich des EWG-Vertrages“ im Interesse „der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit“ und ließ es offen, „ob und gegebenenfalls inwieweit – etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich – für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts“ der Kontrollanspruch aufrechterhalten werde.[67] Der entscheidende Schritt zu einer weitgehenden Rücknahme des Kontrollanspruchs wurde mit dem so genannten Solange II-Beschluss vom 22. Oktober 1986 vollzogen, in dem der Zweite Senat des Gerichts ausführlich darlegte, dass die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die von ihm im Einzelnen nachgezeichnete Rechtsprechung des EuGH, mittlerweile einen dem deutschen Recht vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste. Wörtlich heißt es:[68] „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“. Damit hatte das Bundesverfassungsgericht einen auch für die Europäische Gemeinschaft akzeptablen modus vivendi gefunden, ohne den nationalen Verfassungsvorbehalt vollständig aufzugeben.
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Eine Rückkehr zu einer aktiveren Kontrolle des Gemeinschaftsrechts schien sich mit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 anzudeuten. Der Zweite Senat sprach selbstbewusst von einem „Kooperationsverhältnis“ zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH[69] und betonte besonders die Abhängigkeit der Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Deutschland von dem im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl.[70] Nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckte Änderungen des „Integrationsprogramms“ und daraus hervorgehende „ausbrechende“ Rechtsakte seien im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich, was der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliege.[71] Deutschland bleibe einer der „Herren der Verträge“.
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Mit der Doktrin der „ausbrechenden Rechtsakte“ wird implizit die Letztentscheidungsbefugnis des EuGH für die Auslegung des Primärrechts bestritten. Mit dessen übergreifendem Rechtsprechungsauftrag (Art. 220, 230 EG) ist das nicht in Übereinstimmung zu bringen.[72] Offensichtlich wollte das Bundesverfassungsgericht einen „Warnschuss“ gegen allfälliges ultra vires-Handeln des EuGH selbst abgeben, dessen dynamische Rechtsfortbildung auch in anderen Mitgliedstaaten auf Vorbehalte stößt.[73] Die paradoxe Frage des „Quis custodiet custodes?“, d.h. in der Konsequenz, welches der beiden Rechtsprechungsorgane tatsächlich ultra vires handeln würde, wäre im Übrigen selbst im Falle einer ausnahmsweise zulässigen Kontrolle nicht aufzulösen, da das Vorliegen der Ausnahme streitig bliebe. In seinem „Bananenmarkt“-Beschluss vom 7. Juni 2000 stellte der Zweite Senat klar, dass das Maastricht-Urteil an der „Solange II-Rechtsprechung“ nichts geändert habe und daher Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen wegen einer möglichen Verletzung von Grundrechten durch sekundäres Gemeinschaftsrecht nur zulässig seien, wenn im Einzelnen dargelegt werde, „dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet“, d.h. „die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung [...] unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken“ sei.[74]
bb) Demokratieprinzip
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Grenzen der Integrationsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland leitete das Bundesverfassungsgericht auch aus dem Demokratiegebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) her. In seiner Solange I-Entscheidung führte es als zusätzliches Argument für seine Zuständigkeit für eine Kontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts an, dass die Gemeinschaft noch „eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind“, entbehre.[75] Dieser Sachverhalt wurde später in der Solange II-Entscheidung freilich nicht als unüberwindliche Hürde für die Rücknahme der Gerichtsbarkeit über das abgeleitete Gemeinschaftsrecht angesehen, zumal die Integration weiter vorangeschritten sei.[76]
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In seinem Maastricht-Urteil stellte das Gericht im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG, der eine Änderung der Grundsätze der Art. 1 und 20 ausschließt, fest, dass „der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt“ seien, da demokratische Legitimation maßgeblich „durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten“ erfolge.[77] Die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament trete