Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
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a) Art. 23 GG
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Anders als Art. 24 Abs. 1 GG weist Art. 23 GG eine mehrschichtige Normenstruktur auf. Er statuiert erstens eine inhaltlich qualifizierte, d.h. mit konkreten materiellen Vorgaben verbundene Staatszielbestimmung[99] (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), er erteilt zweitens eine Integrationsermächtigung (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG), und er stellt drittens eine Reihe prozeduraler Anforderungen auf, die einerseits einen breiteren innerstaatlichen Konsens bei weiteren Integrationsschritten sichern (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG), andererseits den innerstaatlichen Willensbildungsprozess in europäischen Angelegenheiten generell auf eine breitere Basis stellen sollen, indem der Bundestag (Art. 23 Abs. 2 und 23 Abs. 3 GG) und für die Länder in abgestufter Weise der Bundesrat stärker einbezogen werden (Art. 23 Abs. 2 und 23 Abs. 4 bis 7 GG). Der im Zusammenhang mit dem Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag eingefügte Europa-Artikel wirkt somit nicht nur integrationsöffnend, sondern auch stark integrationssteuernd.[100]
aa) Erweiterung der Integrationsperspektive
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Mit der Aussage, die Bundesrepublik Deutschland wirke zur „Verwirklichung eines vereinten Europas [...] bei der Entwicklung der Europäischen Union“ mit, benennt Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zwei Staatsziele: erstens in Bekräftigung der Präambel das übergreifende Ziel eines „vereinten Europa“ und zweitens als dafür konkret und vorrangig anzustrebendes Ziel die Entwicklung der Europäischen Union.[101] Die nachfolgenden inhaltlichen Vorgaben beziehen sich demgemäß auf die EU. Mit ihrem Namen verbindet sich trotz der prozesshaften Konnotation des Begriffs „Union“[102] ein Integrationsziel, welches zwar über den Integrationsstand des Maastrichter Vertrages hinausreicht, jedoch nicht die Schaffung eines Bundesstaats einschließt. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Sinne einschränkend von der Europäischen Union als einem „Staatenverbund“ gesprochen.[103] In Übereinstimmung mit der Entstehungsgeschichte wird bis heute ganz überwiegend angenommen, dass Art. 23 GG nicht zur Aufgabe der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland durch Eingliederung in einen europäischen Bundesstaat ermächtigt. Dieser Punkt wäre spätestens dann erreicht, wenn die Europäische Union für sich die Verfassungsautonomie und damit die „Kompetenz-Kompetenz“ reklamierte. Der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unterzeichnete Verfassungsvertrag[104] überschreitet diese Grenze nicht, auch wenn im Hinblick auf diesen Vertrag mit guten Gründen von der Entstehung einer „Republik“ gesprochen wurde.[105] Zwar führt vor allem die Reduzierung der Anwendungsfälle des Einstimmigkeitsprinzips im Rat zu einer Stärkung der Union. Doch beruht die Kompetenzverteilung zwischen nationaler und unionaler Ebene weiterhin auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.[106]
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Die Aussage, dass Art. 23 GG nicht zur Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat ermächtigt, bedeutet nicht, dass ein solches Ziel nicht durch Verfassungsänderung zu erreichen wäre. Allerdings ist in der deutschen Staatsrechtslehre streitig, ob in diesem Falle die Verfassungsänderungsschranke des Art. 79 Abs. 3 GG, der auf die Grundsätze des Art. 20 GG verweist, greifen würde. Soweit man in Art. 20 Abs. 1 GG („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“) oder in Art. 20 Abs. 2 GG (Prinzip der Volkssouveränität) eine Garantie der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland im völkerrechtlichen Sinne erblickt, wäre in der Tat für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes ein solcher Schritt ausgeschlossen. Nach zutreffender Ansicht ist indes ein Fortbestand der Bundesrepublik Deutschland mit ihren zwei staatlichen Ebenen auch in einem europäischen Bundesstaat denkbar. Jedenfalls im staatsrechtlichen Sinne bliebe die Bundesrepublik auch als zweite Ebene in einem dreigliedrigen Staatsgebilde Staat, solange ihr in der bundesstaatlichen Ordnung substanzielle Kompetenzen im Bereich der Legislative, der Exekutive und der Judikative verblieben. Vergleichbar wird den deutschen Ländern Staatsqualität im staatsrechtlichen Sinne zugeschrieben.[107]
bb) Inhaltliche Steuerung des Integrationsprozesses und Struktursicherung
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Während Art. 23 Abs. 1 GG einerseits den Weg zur Mitwirkung an einer politischen Integration Europas öffnet, schränkt er andererseits die Integrationsmöglichkeiten durch inhaltliche Vorgaben für die Gestaltung der Europäischen Union ein.
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Die in Art. 23 Abs. 1 GG statuierten inhaltlichen Direktiven für eine Beteiligung der Bundesrepublik an weiteren Integrationsschritten sind freilich keine unbekannten Beschränkungen, sondern positivieren im Wesentlichen die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie das verfassungsrechtliche Schrifttum herausgearbeiteten verfassungsimmanenten Begrenzungen. Die Verpflichtung der deutschen Staatsorgane, nur an einer Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken, die „einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, knüpft erkennbar an die Solange I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[108] an.
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Zum verfassungsrechtlichen Essentiale des Grundgesetzes zählen auch die in Art. 20 verankerten Prinzipien. An sie anknüpfend fordert Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die Weiterentwicklung einer Union, die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen“ verpflichtet ist. Die Verpflichtung auf demokratische Grundsätze ist insbesondere im Lichte des Monitums des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren, die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament müsse „schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden“ und dem Deutschen Bundestag müssten angesichts der Tatsache, dass der EU über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation vermittelt werde, „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“.[109] Zum Kern der rechtsstaatlichen Prinzipien zählen neben den Freiheitsrechten das Recht auf effektiven Rechtsschutz sowie die Gewaltenteilung, die Rechtsbindung der Verwaltung und die Rechtssicherheit.[110] Bei den „sozialen Grundsätzen“ stehen die soziale Sicherheit und die Förderung der Chancengleichheit im Vordergrund.[111]
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Einigkeit herrscht dabei, dass die genannten Grundsätze nicht eine strukturelle Kongruenz oder Homogenität fordern,[112] sondern dass es nur darum gehen kann, funktional vergleichbare Ziele und Strukturen auf der Unionsebene sicherzustellen.[113] Insbesondere kann die Verpflichtung auf föderative Grundsätze nicht bedeuten, das deutsche Bundesstaatsmodell auf die EU zu übertragen. Es geht vielmehr darum, die Vielfalt in der Einheit, die vertikale Gliederung und damit Gewaltenteilung als Bauprinzip der Union zu wahren und weiterzuentwickeln. Betrachtet man die bisherige Entwicklung des primären Gemeinschaftsrechts, insbesondere die vom EuGH herausgearbeiteten allgemeinen Rechtsgrundsätze und Prinzipienbestimmungen wie Art. 6 Abs. 1 EU, so findet man nicht nur eine funktionale Vergleichbarkeit, sondern sogar eine weitgehende Kongruenz der maßgeblichen Prinzipien des deutschen Rechts einerseits und des Gemeinschaftsrechts andererseits.[114] An prominenter Stelle sind die mittlerweile zum europäischen Gemeingut zählenden Werte bzw. Verfassungsgrundsätze im Europäischen Verfassungsvertrag niedergelegt,[115] was das spanische Verfassungsgericht zu der Feststellung veranlasst hat, dass damit den von verschiedenen Verfassungsgerichten erklärten inhaltlichen Integrationsvorbehalten in vollem Umfang Rechnung getragen werde.[116]
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Erstmals im Grundgesetz erwähnt findet sich der Grundsatz der Subsidiarität. Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG genannten Verpflichtung der Integrationsgewalt auf diesen Grundsatz wird zum einen eine Richtschnur für die Regelung der Kompetenzverteilung von der supranationalen bis zur kommunalen Ebene in