Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes
I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes
Für wertvolle Gespräche und Hinweise danke ich meinem Co-Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Mordechai Kremnitzer (Tel Aviv), sowie meinen Würzburger Kollegen Helmuth Schulze-Fielitz und Fabian Wittreck.
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Verfassungen sind in aller Regel das Produkt einer besonderen historischen Situation: Dokument eines revolutionären Umsturzes der bestehenden staatlichen Ordnung wie in Frankreich 1789 und in Deutschland 1918/19 oder Grundlage der Etablierung eines neuen politischen Gemeinwesens nach einer erfolgreichen Sezession wie in den USA. Plastisch hat man in der angloamerikanischen Literatur vom „constitutional moment“[1] gesprochen, den es gleichsam zu ergreifen und zu nutzen gelte.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 1. Irregularität der Verfassungsgenese
a) Entstehungsprozess
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Auch das Grundgesetz macht hier keine Ausnahme, insofern es den Neuanfang konstitutionalisierter Staatlichkeit Deutschlands nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des verlorenen Zweiten Weltkrieges markiert.[2] Doch treten wesentliche Besonderheiten hinzu. Kriegsfolgenbedingt kam es zur Verfassunggebung unter Besatzungsherrschaft, bedingt durch die weltpolitische Lage des beginnenden Kalten Krieges zur territorialen Beschränkung auf die in den drei westlichen Besatzungszonen lebende Teilnation. Das Grundgesetz wurde so für einen neuen Staat im Werden ausgearbeitet, der sich selbst ausweislich seiner Präambel[3] und seiner Schlussbestimmung[4] nur als Intervall für eine Zwischenzeit verstand, der eine neue Verfassung für das gesamte Deutschland (nach den Erwartungen der Zeitgenossen: alsbald) folgen sollte. Dass man diese ausdrücklich als „Provisorium“[5] bezeichnete Verfassung nicht in souveräner Selbstbestimmung beschloss, zeigte sich daran, dass die Westalliierten den Anstoß zur Schaffung des Grundgesetzes gaben,[6] dass sie im Prozess der Verfassunggebung nicht selten intervenierten und Vorgaben formulierten[7] und dass das fertige Verfassungswerk unter Genehmigungsvorbehalt der Militärgouverneure stand.[8]
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Entsprechende Besonderheiten wies der Parlamentarische Rat[9] als das Gremium auf, das nach Beendigung der Arbeiten des Herrenchiemseer Verfassungskonvents[10] mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes betraut war. Der Parlamentarische Rat konstituierte sich am 1. September 1948 in Bonn und schloss seine Beratungen am 8. Mai 1949 ab.[11] Anders als bei den Nationalversammlungen in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 und im Weimarer Nationaltheater 1919 waren seine Mitglieder nicht vom Volk ausdrücklich für die Aufgabe der Beratung und Verabschiedung einer Verfassung gewählt worden. Vielmehr setzte sich der 65-köpfige Parlamentarische Rat gemäß alliierten Vorgaben aus Mitgliedern zusammen, die von den einzelnen Landtagen gewählt wurden.[12] Das von diesem Gremium beratene und am symbolträchtig gewählten 8. Mai 1949[13] mit großer Mehrheit beschlossene Grundgesetz[14] wurde diesem Teilvolk sodann nicht (obwohl das zunächst und noch für lange Zeit so vorgesehen war) zur Abstimmung vorgelegt, sondern bedurfte gemäß Art. 144 GG lediglich der Zustimmung der Volksvertretungen in den Ländern.[15] Das überrascht auch deshalb, weil es viel naheliegender gewesen wäre, das Inkrafttreten des Grundgesetzes in Anbetracht der Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates aus Vertretern, die von den jeweiligen Landtagen gewählt worden waren, an eine Volksabstimmung in den Ländern zu binden oder, dem amerikanischen Vorbild von 1787/1788 folgend, der Annahme durch besondere Ratifikationskonvente zu unterwerfen.[16] Die Londoner Sechs-Mächte-Konferenz war denn auch von einer Annahme („approval“) in den Ländern in Form von Referenden („ratification by the people“) ausgegangen, was die Frankfurter Dokumente wie folgt verdeutlichten: „Die Ratifizierung in jedem beteiligten Land erfolgt durch ein Referendum, das eine einfache Mehrheit der Abstimmenden in jedem Land erfordert [...]“.[17] Der Parlamentarische Rat hatte anfänglich die Referendumsversion übernommen, schwenkte dann aber bald auf die bloße Annahme durch die Volksvertretungen in den Ländern um[18]. In der Schlussphase der Beratungen nochmals von Dehler (FDP), v. Brentano (CDU) und Renner (KPD) gestellte Anträge auf Volksabstimmung über das Grundgesetz wurden abgelehnt.[19] Nachdem zunächst die Militärgouverneure am 12. Mai 1949 die Genehmigung erteilt[20] und sodann zehn der elf Länder durch ihre Landtage bzw. Bürgerschaften, die dadurch „ad hoc ihre Qualität wechselten“,[21] zugestimmt hatten,[22] konnte der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949[23] gemäß Art. 145 GG die Annahme des Grundgesetzes feststellen und es verkünden.
b) Legitimitätszweifel
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Ungeachtet dieser Besonderheiten seiner Entstehung berief sich die Präambel des Grundgesetzes auf diejenige Legitimationsfigur moderner Verfassunggebung, die in den nordamerikanischen Staaten nach der Unabhängigkeitserklärung praktisch erprobt[24] und seit ihrer theoretischen Ausformulierung in der Französischen Revolution durch den großen Verfassungskonstrukteur Sieyes allgemein verbreitet und anerkannt war.[25] Demgemäß sprach (und spricht insofern unverändert) die Präambel davon, das Deutsche Volk habe sich „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz“ gegeben.[26] Nun war offensichtlich, dass die Genese des Grundgesetzes das vertraute Formenarsenal der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt sprengte. Insofern lassen sich bei anerkannter Möglichkeit weiterer Differenzierung zwei Grundformen[27] unterscheiden: zum einen die unmittelbare Volkswahl einer verfassunggebenden Versammlung, die über die Verfassung berät und diese dann auch ohne Beteiligung weiterer Organe oder des Volkes verbindlich beschließt (Nationalversammlungsmodell), wie dies in Deutschland etwa bei der Paulskirchenverfassung und bei der Verfassung von Weimar der Fall war; zum anderen die Erarbeitung eines Verfassungsvorschlages durch einen Konvent mit anschließender Abstimmung des Volkes (Konvents- oder Referendumsmodell), wie man dies etwa in Frankreich (1852, 1946 und 1958) sowie in Deutschland nach 1945 in der Mehrzahl der vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen (u.a. Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz) praktizierte. Die Genese des Grundgesetzes entspricht keinem dieser beiden Modelle, sondern stellt in gewisser Weise ein Unikat dar. Denn einerseits war der Parlamentarische Rat keine Nationalversammlung, andererseits sah man von einer Volksabstimmung ab. Die Zustimmung der Volksvertretungen in den Ländern war dem Umstand geschuldet, dass es sich um Verfassunggebung in einem föderalen Gemeinwesen handelte.[28] Der verfassungshistorischen Besonderheit der Verfassungsgenese korrespondiert die unter Zeitgenossen und Historikern verbreitete Einschätzung, die Gründung der Bundesrepublik habe ursprünglich etwas Künstliches