Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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b) Staatsorganisation
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Dass das Grundgesetz gewissermaßen eine lernende Verfassung war, lässt sich des Weiteren im Bereich der Staatsorganisation demonstrieren. Hier suchte man vor allem aus tatsächlichen oder vermeintlichen Weimarer Erfahrungen Lehren für eine bessere, gleichsam intelligentere Struktur der Institutionen, Ämter und Kompetenzen zu ziehen.
aa) Parlamentarisches Regierungssystem mit starkem Bundeskanzler
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Die Stellung des deutschen Bundespräsidenten basiert maßgeblich auf Erfahrungen der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte. Der Zuschnitt seines Amtes mit eher repräsentativ-zeremoniellen Aufgaben und geringer politischer Macht[75] stellte eine bewusste Abkehr von der starken Stellung des Reichspräsidenten der Weimarer Republik dar, der als „plebiszitäres“ Staatsoberhaupt[76] direkt vom Volk gewählt und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet gewesen war: Ernennung der Reichsregierung (Art. 53 WRV), Auflösung des Reichstages (Art. 25 Abs. 1 WRV), Herbeiführung von Volksentscheiden (Art. 73 Abs. 1 WRV) sowie der als „Diktaturgewalt“ apostrophierte Erlass von Notverordnungen gemäß Art. 48 WRV.[77] Die verbreitete Etikettierung als „Ersatzkaiser“ kam also nicht von ungefähr, wobei es insbesondere die Kombinationsmöglichkeit der Kompetenzen (Reichstagsauflösung, Kanzlerernennung, Notverordnungserlass) war, die zur Machthäufung beitrugen.[78] Mit der Einsetzung von Präsidialkabinetten ab 1930, der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933[79] hatte Hindenburg maßgeblich zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen.[80] An seine fatale Rolle wurde in den Beratungen des Parlamentarischen Rates durchaus erinnert.[81] Dem nicht vom Volk, sondern von der Bundesversammlung gewählten Staatsoberhaupt der Bundesrepublik stehen politische Gestaltungsentscheidungen hingegen nur in den (selten relevant werdenden) Fällen des Art. 63 Abs. 4 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 1 und 81 Abs. 1 GG zu, wenn dem Parlament die Wahl eines Kanzlers mit absoluter Mehrheit der Stimmen nicht gelingt oder die Vertrauensfrage scheitert.[82]
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Im Gegenzug erfährt die Position des Bundeskanzlers eine ganz erhebliche Aufwertung. Der Reichskanzler Weimarer Prägung war abhängig sowohl vom Reichspräsidenten (der ihn ernannte und wieder entlassen konnte) als auch vom Reichstag (der ihn ablehnen und mit destruktivem Misstrauensvotum seines Amtes entheben konnte). Diese doppelte Abhängigkeit erwies sich in der Schlussphase der Weimarer Republik als „entscheidende Schwäche in der Stellung der Reichsregierung“[83]. Demgegenüber rückt das Grundgesetz den Bundeskanzler in die Mitte des parlamentarischen Regierungssystems und verleiht ihm eine ebenso breite wie stabile, gleich mehrfach gesicherte Grundlage:[84] Wahl allein durch den Bundestag (Art. 63 GG), Absetzungsmöglichkeit nur im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums desselben (Art. 67 GG), umfassendes Kabinettsbildungsrecht einschließlich Organisations- und Personalkompetenz (Art. 64 GG), Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG). Es ist daher nur konsequent, dass mit der Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers auch das der Minister endet (Art. 69 Abs. 2 GG). Die in der politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Literatur verbreitete Charakterisierung der Bundesrepublik als einer „Kanzlerdemokratie“[85] hat aus verfassungsrechtlicher Sicht durchaus ihre Berechtigung. Verstärkt wurde die Rolle des Bundeskanzlers in jüngerer Zeit noch dadurch, dass gemäß der einschlägigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG auch als „auflösungsgerichtete“ zulässig ist und nicht nur gestellt werden darf, um eine Mehrheit im bestehenden Bundestag zu erhalten oder wiederzugewinnen.[86]
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Doch ändert dies alles letztlich nichts daran, dass sich durch die im Grundgesetz vollzogene vollständige Parlamentarisierung des Regierungssystems[87] das Parlament gegenüber der Weimarer Verfassung stärker in die Verantwortung genommen sieht, indem es sich nicht mehr auf die bloße Duldung einer von dritter Seite kreierten Regierung und das Betreiben negativer Politik beschränken kann.[88] Für den Bundeskanzler zeichnet der Bundestag verantwortlich.
bb) Restriktive Verordnungskompetenz der Exekutive
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Eine ähnliche Inpflichtnahme begegnet bei der Gesetzgebung. Hier verleiht der Ausschluss direktdemokratischer Elemente (dazu unten, Rn. 24) dem Bundestag gewissermaßen eine Monopolstellung. Der Versuchung, sich dieser umfassenden Normsetzungsaufgabe weitgehend durch Delegation auf die Exekutive zu entziehen, schiebt Art. 80 GG einen Riegel vor. Dieses „Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte“[89] intendiert mit seiner gleich dreifachen Bindungsklausel vor allem den Ausschluss umfassender gesetzlicher Ermächtigungen, wie sie in der Weimarer Republik an der Tagesordnung waren und dort zu gesetzesvertretenden, -aufhebenden, -verändernden und sogar verfassungsändernden Verordnungen führten.[90] Art. 80 GG nimmt das Parlament gleichsam in die Rechtsetzungspflicht und hindert es daran, „sich seiner Verantwortung als gesetzgebender Körperschaft zu entäußern“[91]. Die autonomen Gestaltungsmöglichkeiten exekutiver Rechtsetzung sind somit stärker als in vielen anderen Staaten der Europäischen Union[92] limitiert.
cc) Föderale Staatsform
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Das in der deutschen Geschichte tief verwurzelte Gestaltungsprinzip föderaler Ordnung[93] mit seinem typischen Effekt vertikaler Gewaltenteilung ist mit totalitären Ordnungen unvereinbar. Deshalb zählte die Entföderalisierung des Reiches zu den primären Maßnahmen des NS-Regimes.[94] Ebenso selbstverständlich war es, Nachkriegsdeutschland wieder als Bundesstaat zu etablieren und damit den totalitären Zentralismus als „klar diskreditierte Episode“ einzustufen.[95] Darüber konnte es im Grundsatz keinen ernsthaften Dissens geben, zumal nach 1945 zunächst die Kommunen und die Länder wiedererstanden, welche das Grundgesetz nun als durchaus erwünschte Realität vorfand. Es hätte daher der entsprechenden Vorgaben in den Frankfurter Dokumenten eigentlich nicht bedurft.[96] Doch war durch diese Konvergenz der föderale Gedanke gewissermaßen doppelt abgesichert: als eigener Wunsch der Deutschen wie als verbindliche Vorgabe der Alliierten. Dass es im Parlamentarischen Rat gleichwohl ein intensives Ringen um die Ausgestaltung im Einzelnen[97] und immer wieder Interventionen der Militärgouverneure gab,[98] folgt aus der Fülle alternativer Regelungsmöglichkeiten, die jeden Bundesstaat zu einem Unikat[99] werden lässt. Letztlich siedelte sich das Grundgesetz insofern zwischen der Reichsverfassung von 1871 mit ihrer starken Betonung der Eigenständigkeit der Gliedstaaten und der Weimarer Reichsverfassung mit ihrem ebenso klar ausgeprägten unitarischen Charakter an.
dd) Kompetenzstarkes Bundesverfassungsgericht
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Die Einrichtung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit war schon für den Herrenchiemseer Verfassungskonvent selbstverständlich: zum einen, weil man eine gerichtliche Absicherung der Grundrechte für notwendig hielt, zum anderen, weil die Vorgänge am Ende der Weimarer Republik den Glauben an einen effektiven Schutz der Verfassung durch das Parlament oder den Reichspräsidenten „nachhaltig erschüttert“ hatten.[100]