Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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Die dabei sichtbar werdende programmatische Leitlinie lässt sich daher als Geltungsverstärkung kraft Bereichsreduktion umschreiben. Die Durchschlagskraft der Grundrechte konnte erhöht werden, weil ihr Kreis auf justiziable Normen verringert wurde. Sie erhöhte sich noch einmal zusätzlich durch eine weitere Neuregelung: die in Art. 1 Abs. 3 GG vorgesehene Grundrechtsbindung (auch) des Gesetzgebers. Es war dies neben ihrer Fassung als subjektive, unmittelbar einklagbare Rechte der bedeutendste Schritt. Damit war der Gedanke des normenhierarchischen Vorranges der Verfassung auch für das Parlament deutlich ausformuliert und die in Weimar virulente, wenngleich wiederum differenziert zu beantwortende Frage nach den „leerlaufenden“ Grundrechten[58] geklärt. Auf dieser Linie der Geltungsverstärkung lag des Weiteren die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG – in dieser Form in Weimar unbekannt, als „Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaates“[59] von der Lehre emphatisch begrüßt und als formelles Hauptgrundrecht im Rechtsalltag von kaum zu überschätzender Bedeutung.[60] Für die praktische Wirksamkeit und Einklagbarkeit der das Wirtschaftsleben betreffenden Grundrechte erwies sich angesichts der Tatsache, dass in einer bürgerlich-liberalen Wirtschaftsordnung Personen- und Kapitalgesellschaften dominieren, zudem die ausdrückliche Erweiterung des Kreises grundrechtsberechtigter Subjekte auf juristische Personen als bedeutsam, wie sie Art. 19 Abs. 3 GG vornahm.[61]
bb) Grundrechtsinnovationen
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Die Konzipierung des Grundrechtsteils erbrachte aber nicht nur verstärkte prozessuale Sicherungen der Grundrechte, ihre Adressierung an den Gesetzgeber und die Ausdehnung auf juristische Personen, sondern auch veritable Neuschöpfungen. Den meisten sah man ihren „Antwortcharakter“ auf die Erfahrungen mit dem Unrechtsregime an. Auf diese Weise gelangte etwa das Wort „Rasse“ als spezielles Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG[62] in das Grundgesetz wie Pontius Pilatus ins Credo. Der Schutz vor Entzug und Verlust der Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 GG war ausweislich der Beratungen ebenfalls eine Reaktion auf die nationalsozialistische Ausbürgerungspraxis.[63] Gleiches wird verbreitet und zumeist ganz pauschal für das Asylgrundrecht angenommen,[64] bei dem man plausibel vermuten kann, dass dies ein allen Beteiligten präsenter Problemhintergrund war. Eine sorgsame Sichtung der Beratungsunterlagen ergibt allerdings den insofern überraschenden Befund, dass „in der Diskussion die Erinnerung an die Fluchtschicksale infolge nationalsozialistischer Verfolgung“ eine aus heutiger Sicht eher „untergeordnete Rolle spielte“ und sich aus den Materialien insbesondere nicht ersehen lässt, „daß während der Beratungen des Asylrechts ausdrücklich auf die Flüchtlingsschicksale der Juden Bezug genommen worden wäre.“[65]
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Die Verheerungen des Krieges im Allgemeinen und der Umstand, dass nahezu jede deutsche Familie Kriegsopfer zu beklagen hatte, spiegelten sich in einer Garantie, die es vor dem Zweiten Weltkrieg kaum irgendwo auf der Welt gab: dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Seine Einführung war im Parlamentarischen Rat durchaus nicht unumstritten.[66] Hervorhebung verdient angesichts der sonst eher geringen Anteilnahme der Öffentlichkeit an den Verfassungsdiskussionen, dass es hier letztlich die zahlreichen Anregungen und Eingaben aus der Bevölkerung waren, die zur Verankerung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung (bemerkenswerterweise lange vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) führten.[67] Wenn etwa umgekehrt die Auswanderungsfreiheit, ein Grundrecht mit großer und spezifisch deutscher Tradition,[68] im Grundgesetz fehlte, hatte das einen eher praktisch-politischen Grund: man wollte in dem daniederliegenden Land nicht auch noch implizit dazu aufrufen, es zu verlassen.[69]
cc) Menschenwürde
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Geradezu wie ein Fanal wirkte der an die Spitze des Grundrechtsabschnittes und damit (von der Präambel abgesehen) des gesamten Grundgesetzes gerückte Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Hier ist die unmittelbare Reaktion auf „die unsäglichen Entwürdigungen der Menschen durch die totalitären Gewalten des 20. Jahrhunderts“[70] mit Händen zu greifen. Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates standen die entsprechenden Praktiken des NS-Regimes noch deutlich vor Augen.[71] Für eine solche Norm gab es kein Vorbild und keine Überlieferung. In den klassischen Menschenrechtserklärungen Amerikas oder Frankreichs kommt die Menschenwürde ebenso wenig vor wie in den Menschenrechtsdokumenten des 19. Jahrhunderts. Erst im 20. Jahrhundert finden sich einige Bruchstücke allerdings durchaus beschränkten oder höchst ambivalenten Charakters in Verfassungen der Zwischenkriegszeit.[72] Für die Durchsetzung der Menschenwürde als einer Rechtsnorm übernahm die UN-Charta von 1945 insofern eine gewisse Vorreiterrolle, als in deren Präambel von „dignity and worth of the human person“ die Rede ist. Später bezeichnete dann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrem ersten Artikel alle Menschen als „frei und gleich an Würde und Rechten“ geboren. Auch einige vorkonstitutionelle Landesverfassungen (Bayern, Bremen und Hessen) rekurrierten bereits auf die Würde. Aber das Bekenntnis zur Menschenwürde als normativ verbindliche und ranghöchste Norm an der Spitze einer Staatsverfassung war neu und blieb es für lange Zeit.[73]
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