Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
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Nicht in Betracht kommen hingegen – jedenfalls nach bisheriger Dogmatik – Grundrechte, welche als Ausdruck der Individualität und Körperlichkeit einer natürlichen Person gelesen werden, wie die Menschenwürde, das Recht auf Leben und körperliche Gesundheit[42] oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Das hat vor allem wegen der Versagung des Schutzes durch den Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare für juristische Personen erhebliche praktische Bedeutung[43] – und ist weder dogmatisch zweifelsfrei begründet noch verfassungsrechtlich geboten.[44] Die dogmatische Entwicklung der Judikatur hinkt hier besonders in Kartell- und Ordnungswidrigkeitenverfahren einem ersichtlichen Schutzbedürfnis hinterher.
b) Juristische Personen des öffentlichen Rechts
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Im Strafrecht tritt der Staat zumeist in Gestalt der Staatsanwaltschaft oder durch Polizei- und Justizvollzugsbehörden auf. Die Ermöglichung einer Verfassungsbeschwerde in Strafsachen wäre also der geradezu klassische Fall des staatlichen Insichprozesses.[45] Indes können juristische Personen des öffentlichen Rechts Verletzte von Straftaten sein, bspw. bei einer Beleidigung (vgl. § 194 Abs. 3 Satz 2, 3, Abs. 4 StGB). Sie besitzen jedoch auch hier grds. keine Grundrechtsfähigkeit.[46] Die Grundrechte sind bekanntlich in der Sicht der klassisch-liberalstaatlichen Lehren in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Innerstaatliche Kompetenzkonflikte sollen nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde ausgetragen werden.[47]
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Für Auseinandersetzungen in diesem Bereich sind spezifische Rechtsbehelfe vor dem BVerfG vorgesehen, wie etwa das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und der Bund-Länder Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG. Es steht demnach das Recht zur Verfassungsbeschwerde juristischen Personen nicht zu, soweit diese öffentliche Aufgaben wahrnehmen.[48] Das soll nicht nur für die Eingriffsverwaltung, sondern auch für den weiten Bereich der Daseinsvorsorge gelten. Juristischen Personen des Privatrechts, welche sich ausschließlich oder in Form der Mehrheitsbeteiligung im Besitz der öffentlichen Hand befinden, soll ebenfalls die Berufung auf Grundrechte verschlossen bleiben.[49]
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Von dem Grundsatz der fehlenden Beschwerdefähigkeit macht das BVerfG jedoch dann Ausnahmen, wenn die juristische Person bei der Wahrnehmung der Rechte zugleich einem grundrechtlich geschützten Bereich zuzuordnen ist, also in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage betroffen wird. Das ist bejaht worden für Rundfunkanstalten,[50] Universitäten[51] sowie Kirchen und andere Religionsgemeinschaften.[52]
c) Sonderfall Prozessgrundrechte
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Daneben ist anerkannt, dass sowohl inländische als auch ausländische[53] juristische Personen des Privatrechts, aber auch solche des öffentlichen Rechts die Verletzung der Justizgrundrechte aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 und Art. 103 Abs. 1 GG geltend machen können.[54] Auf sie muss sich berufen können, wer nach den einschlägigen Prozessnormen parteifähig ist, denn es handelt sich um objektive Verfahrensgrundsätze, die jedem zugutekommen sollen, der Beteiligter an einem Verfahren bzw. unmittelbar durch eine Verfahren betroffen sein kann.[55] Dies gilt für den Staat jedenfalls dann, wenn er in Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes wie jede andere juristische Person richterlicher Hoheitsgewalt unterworfen ist. [56] Folgerichtig kommt eine Verfassungsbeschwerde der Staatsanwaltschaft auch über diese Erweiterung nicht in Betracht, da sie im strafrechtlichen Ausgangsverfahren gerade nicht der Strafgewalt des Gerichtes unterliegt, sondern diese (mit) ausübt.[57]
Teil 2 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen › A. Jedermannseigenschaft – die persönlichen Voraussetzungen › III. Prozessfähigkeit
III. Prozessfähigkeit
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Das BVerfGG enthält keine Bestimmungen über die Prozessfähigkeit. Darunter versteht man auch im Verfassungsprozess die Fähigkeit eines Beteiligten, Verfahrenshandlungen wirksam vorzunehmen und entgegenzunehmen oder durch einen selbst gewählten Vertreter vornehmen zu lassen. Wie schon bei der Festlegung der Parteifähigkeit[58] bleibt es dem Gericht überlassen, „Grundlagen für eine zweckentsprechende Gestaltung des Verfahrens in Analogie zum sonstigen Verfahrensrecht zu bestimmen“[59]. Wegen der besonderen Eigenart des Verfassungsbeschwerdeverfahrens können die einschlägigen Bestimmungen anderer Verfahrensordnungen jedoch nicht ohne Weiteres übertragen werden.[60] Die Verfahrensfähigkeit wird vielmehr von der Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte entscheidend beeinflusst und muss deshalb gesondert für jeden Einzelfall bestimmt werden.[61] Daraus ergeben sich auch für die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen einige spezielle Probleme:
1. Grundrechtsmündigkeit/Einsichtsfähigkeit
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Eine Abhängigkeit der Prozessfähigkeit von der Geschäftsfähigkeit lehnt das BVerfG mit Recht ab. Für natürliche Personen wird an die im Schrifttum entwickelte Figur der „Grundrechtsmündigkeit“ angeknüpft. Es entspricht allerdings der Rechtsprechung des Gerichts,[62] dass die Prozessfähigkeit nur ausnahmsweise vor der zeitlichen Schwelle der Volljährigkeit liegen kann. Das Gericht stellt bei Minderjährigen deshalb grds. auf deren Einsichtsfähigkeit ab und zieht ergänzend Regelungen aus Spezialgesetzen (z. B. zur Religionsmündigkeit) zur Bestimmung der Frage der Grundrechtsmündigkeit heran,[63] vgl. § 5 RelKErzG.
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Soweit allerdings ein jugendlicher Straftäter die Altersgrenze der § 19 StGB, § 3 S. 1 JGG zur Strafmündigkeit überschritten hat und deshalb ab seinem 14. Lebensjahr am strafgerichtlichen Ausgangsverfahren beteiligt werden kann, muss dies auch für die Verfassungsbeschwerde gelten. Psychisch Gestörte und Betreute sind schon wegen Art. 19 Abs. 4 GG in den Verfahren als prozessfähig zu behandeln, in denen eine Maßnahme zu beurteilen ist, die gerade wegen ihres Geisteszustandes getroffen wurde.[64] Im Strafverfahren fallen darunter vor allem Probleme der Anwendung der §§ 20, 21 oder § 63 StGB sowie § 81 StPO.
2. Vertretung und Interessenkollision
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In den übrigen Fällen können gesetzliche Vertreter oder Sorgeberechtigte Verfassungsbeschwerde für ihre Schutzbefohlenen erheben.[65] Dabei kann es zu Interessenkonflikten zwischen Vertreter/Sorgeberechtigtem und dem Minderjährigen kommen. Das kann auch bei Verfassungsbeschwerden in Strafsachen eine Rolle spielen, bspw. in Fällen des Kindesmissbrauchs durch die Eltern, wenn Eltern Verletzte einer Straftat ihres minderjährigen Kindes geworden sind und generell bei der Ausübung von Zeugnisverweigerungsrechten, insbesondere aus persönlichen Gründen (§ 52 StPO).
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