Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Sehr bemerkenswert sind auch Montesquieus Reflexionen über die sinnvolle Höhe der Strafe, die manche Ergebnisse der modernen Sanktionenforschung vorwegnehmen. Die Erfahrung, so Montesquieu, habe
„gelehrt, dass in den Ländern mit milden Strafen die Bürger durch sie geradeso beeindruckt werden wie in anderen durch harte Strafen. Zeigt sich in einem Staat irgendein Übel, so will eine gewalttätige Regierung es sofort beseitigen, und statt auf die Anwendung der alten Gesetze bedacht zu sein, verhängt sie eine grausame Strafe, die dem Übel auf der Stelle Einhalt tun soll. Allein man nutzt die Triebfedern der Regierung dadurch ab: die Vorstellung gewöhnt sich an diese schwere Strafe wie früher an die mildere, und da man die Furcht vor dieser vermindert, so sieht man sich bald gezwungen, nun in allen Fällen die härtere Strafe einzuführen.“[95]
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Harte Strafen verderben den Charakter eines Volkes:
„Wenn man beobachtet, dass … in anderen Ländern die Menschen durch grausame Strafen im Zaum gehalten werden, so kann man darauf zählen, dass dies großenteils durch die Gewalttätigkeit eine Regierung verschuldet wird, die leichte Vergehen so schwer bestraft. Zuweilen denkt ein Gesetzgeber, der ein Übel abstellen will, nur an dessen Beseitigung und hat nur dieses Ziel im Auge, beachtet aber nicht die Nachteile. Ist dann das Übel beseitigt, dann sieht man nur noch die Härte des Gesetzgebers; es bleibt aber im Staate ein Fehler zurück, den diese Härte hervorgerufen hat: die Gesinnung ist nämlich verdorben, sie hat sich an den Despotismus gewöhnt.“[96]
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Eindringlich plädiert Montesquieu dafür, die Strafhöhe von der begangenen Straftat abhängig zu machen; im Kern taucht hier bereits der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf:
„[E]s ist ein großer Fehler, dass bei uns der Straßenräuber genauso bestraft wird wie der Raubmörder; denn es leuchtet doch ein, dass im Interesse der öffentlichen Sicherheit ein Unterschied in der Strafe gemacht werden müsste. In China werden grausame Räuber in Stücke gehauen, andere nicht; diese Unterscheidung bewirkt, dass man dort zwar raubt, aber nicht mordet. In Russland dagegen, wo die Strafe für Räuber und Mörder dieselbe ist, mordet man dauernd, denn die Toten erzählen nichts, wie man dort sagt.[97]
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In einigen Formulierungen Montesquieus klingt die Vorstellung an, es gebe so etwas wie eine vorgegebene Beziehung zwischen Straftat und Strafhöhe.[98] Dieser an das Naturrecht erinnernde Gedanke wird jedoch nicht näher ausgeführt. Für besonders schwere Delikte wie die Tötung anderer will Montesquieu die Todesstrafe beibehalten.[99] Auf dem Gebiet der Religion empfiehlt er Zurückhaltung des Strafgesetzgebers.[100] Das soll insbesondere für die Blasphemie gelten.[101] Auch zum Strafprozess äußert sich Montesquieu. Er empfiehlt nach englischem Vorbild die Einrichtung einer Jury.[102] Die Ablehnung der Folter scheint ihm schon selbstverständlich zu sein: „Es haben so viele tüchtige Leute und große Geister gegen diesen Brauch geschrieben, dass ich kaum noch nach ihnen zu sprechen wage.“[103] Hier wird deutlich, dass sich Montesquieu in einem Traditionszusammenhang sieht, der vor die Aufklärung zurückreicht (s.o. Rn. 18 ff. zu Spee und seinen Nachfolgern).
2. Voltaire (1694–1778)
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Wesentlich radikaler als die Rechtskritik Montesquieus waren die rechtpolitischen Forderungen des Francois Marie Arouet, genannt Voltaire (1894–1778).[104] Nach einem kurzen Ausflug in das Studium der Rechte wandte sich der junge Voltaire der Dichtkunst zu und avancierte rasch zu einem führenden Schriftsteller Frankreichs. Seine Kritik an den herrschenden Verhältnissen zwang ihn 1726, Paris zu verlassen und in England Zuflucht zu suchen. Die gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse auf der Insel beeindruckten ihn so sehr, dass er ein Buch mit dem Titel „Philosophische Briefe“ verfasste, nach Peter Gay die erste „Bombe“, die auf das Ancien Regime geschleudert wurde.[105] Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wurde Voltaire rasch zum bekanntesten französischen und, ab den frühen 60er Jahren, europäischen Intellektuellen. Er war Wortführer und Sprachrohr jener kritischen Intellektuellen, die als „philosophes“ durch ihre Kritik am dekadenten französischen Absolutismus nach Ludwig XIV. den Umschwung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Frankreich vorbereiteten, der 1789 im Ausbruch der Französischen Revolution kulminierte.
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Durch die Rücknahme des Edikts von Nantes 1685 waren die Hugenotten wieder zu einer verfolgten Minderheit geworden. Besonders drückend waren die Verhältnisse im südfranzösischen Toulouse. Im Jahr 1761 verübte dort der Sohn des Jean Calas aus persönlichen und beruflichen Gründen Suizid. Seinem Vater wurde daraufhin vorgeworfen, den Sohn ermordet zu haben, um dessen angeblich bevorstehenden Übertritt zum Katholizismus zu verhindern. Angefeuert vom städtischen Mob und unterstützt vom Toulouser Klerus wurde Jean Calas festgenommen, gefoltert und hingerichtet, obgleich die Unrichtigkeit des Vorwurfs für jedermann mit Händen zu greifen war.[106]
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Die Umstände des Falles, und nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Calas trotz Folter bis zuletzt geweigert hatte, die ihm zur Last gelegte Tat zu gestehen, erregten rasch Aufsehen. Nachdem Voltaire, der berühmteste Schriftsteller und Intellektuelle seiner Zeit, von dem Fall erfahren hatte, begann er, selbst schon in hohem Alter stehend, eine bislang beispiellose europaweite Kampagne, um Calas zu rehabilitieren und eine Reform des Strafrechts anzustoßen. Dabei setzte er die ganze Breite seines schriftstellerischen Könnens ein und verfasste unzählige Briefe ebenso wie Pamphlete, Traktate und Theaterstücke. Das bekannteste Ergebnis seiner rastlosen Tätigkeit für die Familie Calas ist der berühmte „Traktat über die Toleranz“, ein Werk, das zuletzt 2015 nach den Anschlägen auf die Pariser Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in vielen Staaten neu aufgelegt wurde.[107] Im Jahr 1765 schließlich hatte Voltaire Erfolg: Jean Calas wurde rehabilitiert und seine Familie aus der Haft entlassen.
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In den folgenden Jahren griff Voltaire noch mehrfach in laufende Kriminalverfahren ein, etwa zugunsten des Edelmannes de la Barre, der zu Folter und Tod verurteilt worden war, weil er es versäumt hatte, vor einer ihm entgegenkommenden Fronleichnamsprozession in die Knie zu gehen.[108] Als Voltaire 1778, kurz vor seinem Lebensende, noch einmal Paris besuchte, stand die Bevölkerung auf den Straßen, um dem Justizkritiker dankbar ihre Referenz zu erweisen.[109] Angesichts seiner überwältigenden Popularität verzichteten Kirche und Staat darauf, ihn festnehmen zu lassen – der Satz „Voltaire verhaftet man nicht“ ist seither zu einem geflügelten Wort geworden.
1. Cesare Beccaria (1738–1794)
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Die bis heute einflussreichste Schrift zur Reform des Strafrechts stammt von dem Mailänder Cesare Beccaria und trägt den Titel „Dei delitti e dei pene“ (über Verbrechen und Strafen).[110] Das wenig mehr als 100 Seiten starke Werk erschien 1764 in erster Auflage und verbreitete sich – von Voltaire nach Kräften unterstützt – in der veränderten Fassung von 1766 innerhalb weniger Jahre über ganz Europa und darüber hinaus. Seither ist „Über Verbrechen und Strafen“ in alle großen Sprachen übersetzt und immer wieder neu aufgelegt worden. Überall auf der Welt dient es als Referenz, wenn es darum geht, das Strafrecht eines Landes zu modernisieren und