Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Richtig ist allerdings, dass damit über die zu verfolgenden Zwecke noch nichts ausgesagt ist. Diese Frage leitet in die Rechts- und Moralphilosophie über.[127] Für Beccaria und seine Zeitgenossen war klar, worum es ging: Die Abschaffung des unnötig grausamen und willkürlichen Strafrechts seiner Zeit zugunsten einer der Aufklärung und Humanität verpflichteten rationalen Strafrechtspflege. Im demokratischen Verfassungsstaat der Gegenwart ist die Entscheidung über die durch die Strafgesetze zu verfolgenden Ziele Sache des parlamentarischen Gesetzgebers. Historisch gesehen dürften die Erfahrungen mit diesem Modell wesentlich besser sein als diejenigen, die wir mit Strafgesetzgebern gemacht haben, die glaubten (oder glauben machen wollten), dass sie von menschlichen Entscheidungen unabhängigen normativen Vorgaben folgen.
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Die zweite gegen Beccaria gerichtete Kritik, nämlich dass er keine Handhabe gegen die bedenkliche Strafrechtsausweitung unserer Zeit böte (s.o. Rn. 74), überzeugt ebenfalls nicht. Beccaria behandelt das Thema gar nicht. Die Probleme unserer Zeit kannte er nicht und konnte sie auch nicht kennen. Immerhin ermöglicht das von Beccaria hochgehaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip durchaus, einem übereifrigen Strafgesetzgeber Grenzen aufzuzeigen. Es sind dies allerdings, und darin wird man den Kritikern Beccarias Recht geben müssen, keine absoluten Grenzen. Wenn es solche Grenzen geben soll, müssen sie von Menschen gesetzt werden.
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Beccaria hat zentrale Elemente des heutigen, an den Menschenrechten orientierten Strafrechts thematisiert, darunter die Gedanken der General– und Spezialprävention, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Ablehnung grausamer Strafen und der Todesstrafe, die Einsicht in die Sinnlosigkeit von Folter, und die enge Bindung des Richters an das Gesetz. Über diese strafrechtstypischen Prinzipien hinaus hat er Ideen formuliert, die für die moderne Rechtsordnung insgesamt wegweisend sind, etwa die Trennung von (irdischem) Recht und überirdischer Gerechtigkeit, und damit auch die Abgrenzung der Rechtswissenschaft von der Theologie. Sehr bemerkenswert sind sein naturalistischer Ansatz und, damit eng verbunden, die Öffnung der Strafrechtswissenschaft für Empirie. Damit hat Beccaria für das Strafrecht in nuce ein humanistisches Reformprogramm skizziert, welches bis heute nicht abgeschlossen ist.
2. Gaetano Filangieri (1752–1788)
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Der Beitrag Gaetano Filangieris[128] zu der europäischen Strafrechtsreform des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird oft unterschätzt. Während Beccarias Text „Über Verbrechen und Strafen“ die strafrechtspolitischen Forderungen der Aufklärer wie Montesquieu, Helvetius, Voltaire und Diderot genial auf den Punkt bringt und damit den Puls der Zeit trifft, fasst Filangieri am Ende der Aufklärungsepoche die Ideen zur Strafrechtsreform noch einmal in großem Detail systematisch zusammen. Seine Gedanken zum Strafrecht finden sich vor allem im 1783 in erster Auflage erschienenen dritten Band seines Hauptwerks „Szienza della legislazione“.[129]
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Filangieri will die Strafrechtsreform unter drei Leitgedanken stellen, nämlich „größte Sicherheit für die Unschuldigen“, „größte Abschreckung der Bösen“ und „kleinste freie Willkür der Richter“.[130] Wie Beccaria argumentiert er auf der Grundlage der Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Die Sicherung der Rechte Unschuldiger soll vor allem durch ein sorgfältig durchdachtes System prozessualer Vorkehrungen erreicht werden, denen Filangieri einen Großteil seines Buches widmet. Folter lehnt er, Beccaria folgend, entschieden ab. Wie sein Mailänder Landsmann sieht Filangieri die Hauptaufgabe des Strafrechts in der Abschreckung (der „Bösen“), wobei er die generalpräventive Perspektive von der spezialpräventiven trennt. Dabei thematisiert auch er den Gedanken der Verhältnismäßigkeit:
„Der Endzweck der Gesetze, wenn sie Verbrechen bestrafen, kann … kein anderer sein, als den Verbrecher von fernerer Beunruhigung der Gesellschaft abzuhalten; und andere von der Nachahmung seines Beispiels durch den Eindruck abzuschrecken, den die an ihm vollzogene Strafe auf ihr Gemüt machen soll. Kann diese Absicht mit gelinderen Strafen erreicht werden, so muss das Gesetz keine härteren brauchen. Jene Strafen sind folglich die vorzüglichsten, welche … durch den kleinsten möglichen Schmerz des Übertreters den größtmöglichen Abscheu vor Missetaten und die größtmögliche Furcht bei solchen hervorbringen, die sich könnten dasselbe Verbrechen gelüsten lassen. Wenn daher der Gesetzgeber Strafen für die verschiedenen Arten der Verbrechen festsetzt, so darf er sich keinen höheren Grad von Strenge erlauben, als zur Unterdrückung der schlimmen Leidenschaft nötig ist, welche dieses und jenes Verbrechen hervorbringt.“[131]
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Sehr bemerkenswert sind schließlich die Ausführungen Filangieris zum Begriff des Verbrechens, etwa zum Handlungsbegriff, zum Vorsatz und zum freien Willen als Voraussetzung der Strafbarkeit: „Wenn eine Handlung nur insoweit zugerechnet werden kann, als sie freiwillig geschieht: so findet kein Verbrechen statt, wo keine Freiheit des Willens stattfindet.“[132] Filangieris scharfsinnige Analysen weisen auf die Entwicklung der italienischen,[133] aber auch der deutschen Rechtsdogmatik im 19. Jahrhundert voraus.
1. Vorläufer
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Samuel Pufendorf (1632–1694) gehört zu den führenden Naturrechtslehrern des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Strafrecht betonte er die Bedeutung von Prävention, wies auf die Willensfreiheit des Menschen hin und leitete daraus Straferfordernisse wie Zurechnungs– und Einsichtsfähigkeit ab.[134] Damit wurde er zu einem der wichtigsten Impulsgeber des Schuldstrafrechts. Um die Aktualisierung seiner Zurechnungs- und Notstandslehre hat sich im 20. Jahrhundert vor allem Hans Welzel bemüht.[135]
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Christian Thomasius (1655–1728), der „Vater der Aufklärung“ in Deutschland, akzentuierte die Trennung von Recht und Moral und setzt sich öffentlichkeitswirksam mit den Machtansprüchen der lutherischen Orthodoxie, aber auch der katholischen Kirche auseinander. Für das Strafrecht bedeutsam ist vor allen seine Kritik an den Hexenprozessen;[136] er leugnet die Möglichkeit einer körperlichen Verbindung von Frauen mit dem Satan und entzieht so dem Hexenglauben eine wesentliche Basis. Bemerkenswert ist seine Referenz gegenüber Friedrich von Spee (s.o. Rn. 18 ff.), den er fälschlich als protestantischen Theologen einstuft.
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Christian Wolff (1679–1754) ist der Hauptvertreter der rationalistischen Spielart der Aufklärung in Deutschland. Wolff hielt es für möglich, aus wenigen Grundprinzipien selbst detaillierte Rechts- und Moralnormen abzuleiten; in der modernen Logik wird die Zulässigkeit derartiger gehaltserweiternder Schlüsse verneint. Mit seiner deduktiven Methode hat er die Begriffsjurisprudenz beeinflusst, während seine Wirkung auf die Entwicklung des Strafrechts und der Strafrechtswissenschaft gering blieb. Immerhin dürfte sein streng systematischer, logisch geordneter Darstellungs- und Argumentationsstil Immanuel Kant (s.u. Rn. 125 ff.) und damit mittelbar auch die Begriffsbildung und Darstellungsmethode von Feuerbach (s.u. Rn. 130 ff.) beeinflusst