Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Besondere Bedeutung kommt Hommels Schrift „Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen“ zu, die 1770 in erster und 1772 in zweiter, stark erweiterter Fassung erschien.[160] Hommel versucht darin den Nachweis zu führen, dass sich Moral und Strafe mit einem strengen Determinismus vereinbaren lassen, ja mit diesem vereint werden müssen. Der etwas merkwürdige Titel der Schrift ist dadurch zu erklären, dass zu Lebzeiten Hommels die türkische Version des Islam als in besonderer Weise fatalistisch galt. Und doch gab es in der Türkei Moral und (Straf-)Gesetze!
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Die Vorstellung, unter Zugrundelegung eines durchgehenden Determinismus sei Strafe sinnlos oder zumindest ungerecht, jedenfalls wenn man Strafe als Sühne oder gerechte Vergeltung versteht, taucht schon in der Antike auf.[161] Dennoch fand der Determinismus immer wieder Vertreter, die sich auf die Macht des Geschicks, die Allmacht Gottes und (ab der frühen Neuzeit) auf die Geltung der Naturgesetze beriefen. Hommels Determinismus wurzelt in seinem Verständnis des Christentums und der Allmacht Gottes: Wenn Gott alle Taten voraussehen kann, so stehen sie bereits fest und der Mensch vermag daran nichts zu ändern. Hommels wichtigster Gewährsmann für eine deterministische Position ist Martin Luther, dessen Schrift „De servo arbitrio“[162] er immer wieder zitiert. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war der deutsche Protestantismus allerdings überwiegend indeterministisch eingestellt; Christian Wolff musste auf Befehl Friedrich Wilhelms I. binnen 48 Stunden bei Strafe des Strangs Halle verlassen, nachdem dem König zugetragen worden war, Wolff sei ein Determinist.[163]
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Hommels Schrift ist zwar, wie so viele Texte der Aufklärer, nach unserem Verständnis unsystematisch und oft auch redundant, dennoch enthält sie eine originelle und gut durchdachte Verteidigung der deterministischen Position.[164] Das Gefühl von Freiheit hält Hommel für eine Illusion.[165] Nach seiner Konzeption besitzt das Strafrecht vor allem spezialpräventive Funktion. Dabei stellt er Menschen und Tiere konsequent auf eine Ebene: Strafen und Gesetze „haben bey einem Menschen eben die Bedeutung, welche bei einem Hunde der Prügel hat. … Dieser gewöhnet den Tieren Unarten ab. Wenn man ihn schläget, bekümmert man sich nicht darum, ob er frey sey oder nicht, sondern man ist böse und zornig. Was bey dem Hunde der Prügel, das sind bei vernünftigen Geistern Ermahnungen und Gesetze.“[166] Die hier vorgenommene Gleichsetzung von Menschen und Tieren bedeutete wohl schon zu Zeiten Hommels einen Tabubruch, erscheint aber bei Zugrundelegung eines durchgehenden Determinismus nur konsequent.
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Beccarias Schrift „Über Verbrechen und Strafen“ (1764, s.o. Rn. 65)) wurde von Hommel begeistert begrüßt. Er ließ eine Übersetzung anfertigen und verfasste dafür ein sehr eingehendes Vorwort, in welchem er sich in fast allen wesentlichen Punkten den Ideen des Italieners anschloss.
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Hommel war der Rechtspraxis eng verbunden. Seine kritischen Analysen der kursächsischen Gerichtspraxis veröffentlichte er unter dem Titel „Rhapsodia quaestionum in foro quotidie obvenientum“[167] Daneben publizierte Hommel, Thomasius und vielen anderen Aufklärern folgend, populäre Schriften wie die „Litteratura Iuris“[168] und die „Kleinen Plappereyen.“[169]
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1784 gab Karl Gottlob Rössig, Hommels Schwiegersohn, aus dem Nachlass die „Philosophischen Gedanken über das Criminalrecht“ heraus und versah das Werk, welches wesentliche Elemente von Hommels kriminalpolitischem Programm noch einmal zusammenfasst, mit einem ausführlichen Kommentar.[170]
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Bemerkenswert ist Hommel auch für seine Sprachkritik und seine Ironie. Seine Forderungen nach Gedankenfreiheit zeigen ihn als Vertreter der Aufklärung und Intellektuellen modernen Typs. Für heute Leser befremdlich ist ein häufig anklingender antijüdischer Unterton, der sich vor allem gegen die Gesetzesgläubigkeit der Juden richtet.[171]
4. Johann David Michaelis (1717–1791)
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Eine Sonderrolle kommt dem Göttinger Orientalisten, Theologen und Polyhistor Johann David Michaelis zu.[172] In seinem sechsbändigen Werk über das Mosaische Recht[173] behandelte er nicht bloß in großem Detail die biblischen Quellen, sondern stellte auch den historischen Kontext des Mosaischen Rechts heraus, das er klar gegenüber dem zeitgenössischen Recht abgrenzt. Damit wird zugleich eine Trennlinie zur Theologie gezogen. In der „Vorrede“ zum 6. Teil seines Werkes, worin die wichtigsten Aussagen Michaelis zur Strafrechtsreform enthalten sind, grenzte er die „göttlichen Strafen jener Welt“ deutlich ab von solchen, „die nach bürgerlichen Gesetzen in dieser Welt vollzogen werden“.[174]
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Argumentationsgrundlage war auch bei ihm die Lehre vom Gesellschaftsvertrag: „Der Staat … ist diejenige größere Gesellschaft, in die wir der Sicherheit wegen zusammentreten“.[175] Unmissverständlich stellte er die Bestimmung der Strafen in einen Zweck-Mittel-Zusammenhang: „Die Größe der Strafen muss nach ihrem Endzweck bestimmt werden: so groß, als nötig ist, um diesen Endzweck zu erreichen, aber auch so klein, als es die Absicht der Strafen zulässt.“[176] Damit wird der Kerngedanke des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes klar umschrieben.[177]
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Eine zweckfreie Strafe ist für Michaelis ein Unding: „Dies bloße Übel ohne einen weiteren Zweck, der es rechtfertigte, wozu sollte es helfen?“.[178] Hauptzweck aller Strafen ist „die Abschreckung von Verbrechen“.[179] Daneben nennt Michaelis noch drei „Nebenzwecke“ von Strafe: die Unschädlichmachung des Gefährlichen (Michaelis spricht von seiner „Entfernung“ oder, für unsere Ohren in bedenklicher Weise übertreibend, seiner „Ausrottung“), die „Rache des Beleidigten“ und die „moralische Besserung des Gestraften“.[180] Der letztgenannte Gesichtspunkt weist auf spezialpräventive Zielsetzungen hin. Michaelis akzeptiert auch die Todesstrafe, wenn anders eine wirksame Abschreckung nicht erreicht werden kann.[181] Allerdings weist er darauf hin, dass die Vollstreckung der Todesstrafe „nach entdeckter Unschuld“ keine Wiedergutmachung zulasse.[182] Anders als Beccaria hält Michaelis in Ausnahmefällen auch eine Begnadigung für zulässig.[183]
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Bemerkenswert ist das psychologische Modell, durch welches Michaelis die Wirkung einer Strafandrohung verdeutlichen möchte.[184] Er vergleicht die Strafandrohung mit einem Gewicht, welches eingesetzt wird, um anderen Faktoren als Gegengewicht zu dienen. Anschaulich spricht Michaelis von einer Waagschale, auf deren „böser“ Seite neben Vorteilsstreben „heftige Affekte, Zorn, Rachgier, Furcht [und] Wollust“ wirken, auf der „guten“ Schale dagegen Faktoren wie „Religion“, „natürliche Redlichkeit“, Mitleid“, ein „gutes Herz“ , ein „natürliches gutes Temperament“ und „Erziehung“.[185] Die Strafandrohung soll helfen, den „guten“ Faktoren ein Übergewicht zu verschaffen. Die Nähe zur „psychologischen Zwangstheorie“ Feuerbachs (s.u. Rn. 134) ist offensichtlich. Aus dem Modell lässt auch herleiten, dass Strafen nicht allzu streng sein müssen, wenn in einer Gesellschaft bereits viele positive Faktoren – für Michaelis ist dies vor allem die Religion – wirken.[186] Damit wird die gedankliche