Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Ausnahmsweise können Blanketttatbestände sogar mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein, wenn sie erst durch Verwaltungsvorschriften ausgefüllt werden.[324] Auch hier gilt aber, dass sich die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Sanktion bereits aus dem Blankettgesetz mit hinreichender Deutlichkeit ablesen lassen müssen;[325] außerdem muss das Gesetz bezüglich der Ausfüllung auf die sog. „normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift“ exakt verweisen.[326] Da das Risiko einer Bestrafung für den Normadressaten vorhersehbar sein muss, kommen für die Ausfüllung zudem nur solche Verwaltungsvorschriften in Betracht, die förmlich publiziert und leicht zugänglich sind.[327] In ähnlicher Weise kann ein Strafgesetz ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG darauf angelegt sein, durch Verwaltungsakte ausgefüllt zu werden.[328] In einem solchen Fall hat das Gesetz Typus und Regelungsumfang des Verwaltungsaktes jedoch so weit festzulegen, wie der Verstoß gegen die entsprechende Verhaltenspflicht strafbewehrt sein soll. Darüber hinaus muss der die gesetzliche Regelung ausfüllende Verwaltungsakt in seinem konkreten Regelungsgehalt hinreichend bestimmt, also ohne Entscheidungsermessen der Erlassbehörde, sowie bestandskräftig sein.[329]
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Da Art. 103 Abs. 2 GG den Grundsatz der Gesetzesgebundenheit im Strafrecht etabliert, ist die gewohnheitsrechtliche Strafbegründung oder Strafverschärfung verboten.[330] Das Prinzip der Gesetzesgebundenheit bezieht sich jedoch nur auf das materielle Strafrecht i.S. der Strafandrohung,[331] bedeutet aber kein allgemeines Verbot des Gewohnheitsrechts.[332] Denkbar ist daher etwa, dass ein Strafgesetz durch stete Nichtanwendung, die sich auf eine neu gebildete Rechtsüberzeugung stützt, ungültig wird (sog. desuetudo); dann ist der Schutzbereich von Art. 103 Abs. 2 GG von vornherein nicht berührt.[333] Soweit sich Normen des Allgemeinen Teils des StGB gewohnheitsrechtlich, etwa im Wege einer Wandlung der Strafrechtsdogmatik, modifizieren, ist dies dann mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar, wenn diese Veränderung nicht zu einer Vermehrung des denkbaren strafrechtswidrigen Verhaltens führt.[334] Auch gesetzliche Verweisungen auf gewohnheitsrechtlich anerkanntes Völkerstrafrecht können unter eng gefassten Umständen mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein.[335]
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Blankettstrafgesetze dürfen schließlich auf unmittelbar geltendes Unionssekundärrecht verweisen. Dies ist jedenfalls dann unproblematisch, wenn etwa eine EU-Verordnung nur Verhaltenspflichten festlegt, deren strafrechtliche Sanktionierung erst durch ein deutsches Blankettgesetz erfolgt.[336] In entsprechender Weise ist es zulässig, dass der Gesetzgeber zur Ausfüllung von Blanketttatbeständen auf internationale Akte verweist, denen er gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rechtsanwendungsbefehl erteilt hat. Hierfür gelten die gleichen Maßstäbe wie bei innerstaatlichen Verweisungen; die Konkretisierungen auf internationaler Ebene sind im Regelfall nicht weniger bestimmt als im innerstaatlichen Bereich.[337]
2. Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa)
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Als spezielle Ausgestaltung des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet Art. 103 Abs. 2 GG die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit und stellt insoweit höhere Anforderungen.[338] Wegen seiner freiheitsgewährleistenden Funktion verpflichtet das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen.[339] Jedermann soll voraussehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist, damit er sein Tun oder Unterlassen auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich einrichten kann und willkürliche staatliche Reaktionen nicht befürchten muss.[340]
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Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes darf allerdings nicht übersteigert werden. Insbesondere im Blick auf das Nebenstrafrecht legt das Bundesverfassungsgericht einen vergleichsweise großzügigen Maßstab an die Bestimmtheit an.[341] Aber auch darüber hinaus schließt Art. 103 Abs. 2 GG nicht aus, dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten schon oder noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt.[342] Ein gewisses Maß an Abstraktion lässt sich bei Rechtsnormen, die notwendigerweise typisieren, nicht vermeiden. Ansonsten würden Gesetze zu starr und kasuistisch und der Vielgestaltigkeit des Lebens und dem Wandel der Verhältnisse nicht gerecht.[343] Selbst gesetzliche „Randunschärfen“ gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als unvermeidbar.[344] Nur in Ausnahmefällen hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, dass eine Vorschrift so exakt formuliert sein muss, dass dem Einzelnen „die Grenze des straffreien Raums klar vor Augen steht“.[345]
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Auch Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Norm mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder wenn sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und daraus eine hinreichende Bestimmtheit entwickelt.[346] Zum Beispiel werden die Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts gemäß § 13 StGB und die von der Rechtsprechung hierzu vorgenommene Umschreibung möglicher Garantenstellungen als verfassungskonform erachtet.[347] Hinsichtlich der Auslegungsmethoden kommt allerdings im Strafrecht der grammatischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu. Der mögliche Wortsinn einer Vorschrift zieht der Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist.[348] Für den Normadressaten muss wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar sein.[349] Dabei ist in erster Linie der verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes, also die Sicht des Bürgers maßgebend.[350] Insgesamt muss die Strafnorm umso präziser sein, je schwerer die angedrohte Strafe ist.[351] Nach bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur sind daher an strafbarkeitsbegründende Merkmale höhere Bestimmtheitsanforderungen zu stellen als an „tatbestandsregulierende Korrektive“, die sich zugunsten des Täters auswirken.[352] Die Berücksichtigung ungeschriebener Tatbestandsmerkmale, wie etwa die „Vermögensverschiebung“ beim Betrug nach § 263 StGB, ohne die der objektive Tatbestand wesentlich extensiver wäre, ist deshalb kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG.[353]
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Das sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebende Gebot der Gesetzesbestimmtheit gilt nicht nur für den Straftatbestand, sondern auch für Art und Maß der Strafandrohung. Diese muss in einem vom Schuldprinzip geprägten Strafsystem sachangemessen auf den Straftatbestand und das in ihm als strafwürdig bewertete typisierte Unrecht abgestimmt sein.[354] Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist aber, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung der Strafrechtsfolgen auf ein abstraktes Höchstmaß an Präzision verzichtet, wie es mit absoluten Strafen theoretisch zu erreichen wäre, und stattdessen dem Richter die Festlegung einzelner Rechtsfolgen innerhalb gesetzlich festgelegter Strafrahmen überlässt. Im Blick auf die Besonderheiten des Einzelfalls kann nämlich erst der Richter die Angemessenheit der konkret bemessenen Strafe beurteilen.[355] Als Mindestanforderungen verlangt das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass das Gesetz die Art der für den jeweiligen Tatbestand in Betracht kommenden Sanktion nennt und die Straftatbestände des Besonderen Teils einen Strafrahmen mit Mindestmaß und Höchstmaß der Strafe aufweisen.[356] In dieses Gebot einbezogen sind alle strafrechtlichen Sanktionen, auch Nebenstrafen und Nebenfolgen, Einziehung und Verfall.[357] Dasselbe gilt für Strafzumessungsregeln, die einen erhöhten Strafrahmen z.B. an das Vorliegen eines „besonders schweren Falls“ knüpfen. Zur Bestimmtheit des materialen Merkmals der „besonderen Schwere“ tragen jedoch nicht nur die vom Gesetzgeber normierten Regelbeispiele, sondern auch die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien bei.[358] Um Rechtsfolgenbestimmtheit und Schuldprinzip in praktische Konkordanz zu bringen, darf der Strafrahmen nicht zu eng gesteckt sein. Die absolute Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe bei § 211 StGB kann daher im Blick auf das Schuldprinzip in Einzelfällen bedenklich sein.[359]
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