Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
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Art. 104 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 GG modifizieren die allgemeinen Regelungen des Art. 104 Abs. 2 GG für die Festnahme durch die Polizei bzw. für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und stellen Spezialvorschriften mit ergänzendem Inhalt dar,[498] die im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung stehen.[499] Auch deshalb entbindet die in Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG enthaltene Höchstfrist („Ende des Tages nach dem Ergreifen“) nicht von der in Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG niedergelegten Verpflichtung, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen.[500] Bei vorläufigen Festnahmen wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung legt Art. 104 Abs. 3 GG eine absolute Höchstfrist fest, innerhalb derer der Richter eingeschaltet, der Betroffene ihm also „vorgeführt“ werden muss. Die Entscheidung des Richters braucht aber nicht innerhalb dieser Höchstfrist zu erfolgen, sondern erst unverzüglich nach Einschaltung (Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG). Dadurch kann anders als nach Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG im Rahmen der Strafverfolgung nach Art. 104 Abs. 3 GG die Entscheidung des Richters auch zeitlich erst nach der Höchstfrist ergehen.[501] Werden die strikten Fristen nach Art. 104 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 S. 3 GG nicht gewahrt, ist der Betroffene unverzüglich freizulassen, anderenfalls liegt eine Freiheitsberaubung im Amt vor.[502]
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Art. 104 Abs. 4 GG enthält mit der Benachrichtigungspflicht schließlich eine besondere Ausprägung des rechtsstaatlichen Verfahrens der Freiheitsentziehung. Er soll den Festgenommenen davor schützen, dass er spurlos verschwindet.[503] Daher ist nach Art. 104 Abs. 4 GG von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder die Fortdauer einer Freiheitsentziehung[504] unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Dabei ist der Richter dann nicht an die Vorschläge des Festgehaltenen gebunden, wenn anderenfalls eine Gefährdung des Untersuchungszwecks – etwa bei Verdacht der Komplizenschaft – nicht ausgeschlossen werden kann.[505] Ein völliges Absehen von der Benachrichtigungspflicht ist aber auch in diesen Fällen ausgeschlossen.[506] Wiewohl die Benachrichtigung ein subjektives Recht des Festgenommenen ist,[507] stellt Art. 104 Abs. 4 GG zugleich objektives Verfassungsrecht dar, weshalb der Festgehaltene auf die Benachrichtigung nicht verzichten kann. Die Nichtabdingbarkeit der Rechte aus Art. 104 Abs. 4 GG erklärt sich aus der historischen negativen Erfahrung mit Geheimprozessen und dem hohen Risiko von Folter bei einer „incommunicado“-Inhaftierung.[508] Bei der Festnahme eines Ausländers ist gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 1 WÜK[509] unverzüglich die zuständige konsularische Vertretung seines Heimatstaates zu unterrichten, sofern der betreffende Heimatstaat das Abkommen ratifiziert hat. Verstöße hiergegen können nicht nur im Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend gemacht werden,[510] sondern ziehen auch Beweisverwertungsverbote nach sich.[511]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › D. Grundrechtlich fundierte strafrechtsrelevante Maximen und Gebote
I. Recht auf ein faires Verfahren
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Über die Anforderungen hinaus, die sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergeben, hat das Bundesverfassungsgericht – anknüpfend an den Sprachgebrauch von Art. 6 Abs. 1 EMRK – aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG, dem Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) einen Anspruch des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches und justizförmiges Strafverfahren abgeleitet.[512] Es hat daran solche Beschränkungen gemessen, die von den speziellen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht erfasst werden.[513] Insbesondere die Menschenwürde erfordere es, dem Angeklagten einen Mindeststandard an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen zu garantieren, damit er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss nehmen könne.[514] Das Recht auf ein faires Verfahren erschöpft sich also nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel, sondern gewährleistet dem Betroffenen, prozessuale Rechte mit der erforderlichen Sachkunde wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können.[515] Insgesamt wohnt dem Recht auf ein faires Verfahren also die Idee der Verfahrensbalance inne.[516] In diesem Sinne enthält der Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu übersehende Gemeinsamkeiten mit der Grundrechtsrelevanz von Verfahren.
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Neben dieser Funktion als Prozessgrundrecht versteht das Bundesverfassungsgericht das Recht auf ein faires Verfahren als Leitlinie für den Gesetzgeber und als Auslegungsmaxime für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.[517] Die besonderen rechtsstaatlichen Garantien des Strafverfahrens seien daraufhin zu prüfen, ob sie den Anspruch auf ein faires Verfahren sicherten.[518] Als konkrete Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren werden vor allem die Vorschriften der StPO über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers angesehen.[519] Von Verfassungs wegen erforderlich ist, dass dem Angeklagten jedenfalls in „schwerwiegenden Fällen“ ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werden muss;[520] dies gilt im Falle notwendiger Verteidigung (§ 140 StPO) auch dann, wenn der Beschuldigte selbst Rechtsanwalt ist.[521] Behörden und Gerichte müssen zudem darauf achten, dass die Pflichtverteidigung wirksam ist.[522] Auch die Hinzuziehung eines Dolmetschers für einen der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beteiligten beurteilt das Bundesverfassungsgericht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleiteten Gebot des fairen Verfahrens.[523] Das Recht auf Beiordnung eines kostenlosen Dolmetschers im Strafprozess folgt zudem unmittelbar aus der menschenrechtlichen Parallelnorm des Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK.[524]
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Absprachen und Vereinbarungen im Strafprozess[525] sieht das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens und dem Schuldprinzip dann vereinbar an, wenn ein rechtlicher Mindeststandard eingehalten wird. Dazu zählt, dass der Beschuldigte vorher über die begrenzte Bindungswirkung und die Rechtsfolgen von Absprachen belehrt worden ist.[526] Die Grundsätze des fairen Verfahrens schließen aber aus, die Erfüllung der richterlichen Aufklärungspflicht, die Gesetzesauslegung und Strafbemessung ins Belieben und zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Einem „Handel mit der Gerechtigkeit“ steht die Verfassung entgegen.[527]